„Energiewende wird Realitätscheck unterzogen“

Krieg in der Ukraine und Energie-Abhängigkeit von Russland

Die „gesamte Energiewende wird schlagartig einem Realitätscheck unterzogen“ schreibt die Tageszeitung „Die Welt“ am 25.02.2022. Sicher sei die kriegerische Aggression Putins gegen die Ukraine „nicht ideal, um den Ausstieg aus der Braunkohle vorzuziehen“.  Aber immerhin: „Die Debatte, wie Deutschland unabhängiger werden kann von russischem Gas, ist voll entbrannt“. Die Wirtschaftswoche titelt am gleichen Tag: „Putin lässt den Traum der Energiewende platzen“. Und ARD-Klima-Experte Werner Eckert fragt im SWR: „Warum sagt der Westen nicht: kein Gas mehr aus Russland? Offensichtlich sind wir immer noch abhängig vom russischen Gas. Was können und müssten wir also tun, um die Energiewende bei uns voranzutreiben?“

„No more gas“ – Anti-Putin-Demo Berlin – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Nils Schmid, außenpolitischer Fraktionssprecher der SPD, hält „beim Thema Gas Russland für deutlich stärker vom Westen abhängig als umgekehrt“. Einigkeit besteht dennnoch über alle Parteien hinweg, dass Deutschland seine Energie-Abhängigkeit von Russland beenden müsse. Und – so die Welt, „schon rücken Energieträger in den Fokus, deren baldiges Ende eigentlich beschlossen ist“. Mit dem Kohleausstieg wachse aber „die deutsche Abhängigkeit von Gas. Und der wichtigste Gaslieferant Deutschlands ist: Russland“.

Alte Fehler befördern jetzt eine rückwärtsgewandte Diskussion. Sachsens Kretschmer will erneut über die Kohle reden, und die FDP will den geplanten Rückbau von Kohlekraftwerken vorerst aussetzen. Brandenburgs Energie- und Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) meint, der vorgezogene Kohleausstieg könne „heute noch nicht abschließend bewertet werden“.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will allerdings das Datum nicht erneut diskutieren. Sein Haus, das ja auch Klimaministerium heißt, hat in einem Papier den Ausstieg für 2030 bereits als gesetzt vermerkt. Im BMWK wird vielmehr nur über die Reduzierung der Importe russischer Steinkohle (immerhin die Hälfte deutscher Steinkohleverstromung) nachgedacht. Die Folgen, wenn Putin das Gas abdreht – zitiert die Welt aus einem entsprechenden Gutachten –  werden „vermutlich überschätzt“.

Den Plan vom Flüssiggas-Terminal wiederbeleben

In dem für den Sommer geplanten Klimaschutzprogramm der Bundesregierung will die Unionsfraktion den rechtlichen Rahmen für ein LNG-Terminal geklärt werden, an dem Flüssiggas aus den USA, Australien oder Katar angelandet werden kann. Habeck will den Bau eines LNG-Terminals beschleunigen – auch für Wasserstoff. Klimaaktive NGO sehen das anders; Martin Kaiser von Greenpeace Deutschland etwa will „unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern sehr schnell reduzieren“ – der Bau von LNG-Terminals helfe dem Land nicht „aus der fossilen Sackgasse“. Als erstes soll jetzt aber erst mal die Erhöhung der Gasreserve helfen: Die Gasspeicher sollen schneller gefüllt werden. Habeck lässt „derzeit ein Gesetz zur verpflichtenden Einspeicherung von Gas“ erstellen.

ARD-Umwelt- und Klimaexperte Werner Eckert: deutsche Abhängigkeit von russischen Energieimporten

„Deutschlands Energie-Abhängigkeit von Russland ist groß und umfassend. Erdgas kommt vor allem über Pipelines und zu 55 Prozent aus Russland. Aber auch bei Steinkohle ist die Abhängigkeit von Putin gleich groß. Bei Erdöl nicht viel geringer. Etwa ein Drittel unseres gesamten Bedarfs an Energie wird durch Importe aus Russland gedeckt. Durch die Energiewende hin zu Erneuerbaren wird Deutschland unabhängiger – aber schnell geht das nicht.“

Energieträger
(2020)
% am
Primärenergie-Verbrauch
% an Brutto-Stromerzeugung Importquote
in %
% aus Russland ca.
Braunkohle 8,0 16,0 0,0 0,0
Steinkohle 7,5 11,3 100,0 58,0
Erdgas 26,5 16,1 94,4 55,0
Uran 5,9 11,3 100,0 0,0
Mineralöl 34,3 0,8 98,0 42,0
Erneuerbare Energien 16,5 43,9 0,0 0,0

Quelle: umweltbundesamt.de/primaerenergiegewinnung-importe

„Besonders gravierend ist die Situation bei Erdgas. Denn die Hälfte der Gebäude in Deutschland wird mit Gas beheizt. Es gibt zudem keine strategische Reserve von 90 Tagesbedarfen wie bei Öl und die privat betriebenen Lager sind gegen Ende des Winters auf Tiefstand. Allerdings rechnen Experten vor, dass die Situation selbst bei einem Totalausfall russischer Lieferungen für die nächsten Monate beherrschbar wäre. Da hilft der extrem milde Winter. Außerdem sind Flüssiggastanker aus den USA, die eigentlich nach Ostasien gehen sollten, schon nach Europa umgeleitet worden. Drei dieser Tanker transportieren etwa so viel Gas, wie wir zu normalen Zeiten an einem einzigen Wintertag aus Russland beziehen.
Prof. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW fordert außerdem, dass die Bundesregierung eine strategische Reserve unter staatlicher Kontrolle anlegt. Die relative Knappheit drückt sich in steigenden Preisen aus. Der Preisanstieg wird derzeit allerdings noch durch einen hohen Anteil langfristiger Verträge gedämpft. Und: Russland liefert ja zumindest die vertraglich vereinbarten Mengen nach wie vor – das hat es auch in allen Krisen des kalten Krieges getan.
Sollten die Lieferungen aber doch und auch im kommenden Winter wegfallen, würde die Lage ungleich schwieriger. Alternative Lieferländer sind die Niederlande und Norwegen – aber dort kann kaum mehr gefördert werden. Lediglich über die Transmed-Pipeline aus Nordafrika könnte noch mehr kommen. Und bei Flüssiggas sind wir auf den europäischen Verbund angewiesen, weil wir selbst kein Entladeterminal haben.
Im Notfall könnten zunächst die Gaskraftwerke ausgeschaltet werden, in zweiter Linie würden Industriebetriebe von der Versorgung abgeklemmt.
Für viele private Heizungen gibt es auf kurze Sicht kaum eine Möglichkeit auf Alternativen auszuweichen.
Am Strommarkt würde ein Wegfall von Erdgas und Steinkohle aus Russland eine doppelte Herausforderung bedeuten. Wahrscheinlich würde mehr Braunkohle verbrannt, sagt Prof. Manfred Fischedick, Wissenschaftlicher Geschäftsführer, des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Und Deutschland würde vom Netto-Exporteur zum Importeur von Strom. Eine Laufzeitverlängerung der beiden Atomkraftwerke, die bis Ende des Jahres abgeschaltet werden sollen, steht nicht zur Debatte. Die EnBW, Betreiber des Kraftwerks in Neckarwestheim, verweist auf unsere Anfrage hin auf den Ausstiegsbeschluss des Bundestages von 2011 und schreibt: ‚Die EnBW hat nach dem damaligen Ausstiegsbeschluss eine langfristige Strategie für den Rückbau ihrer Kernkraftwerke ausgearbeitet, die sie seither konsequent umsetzt. Die Frage nach der Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke sowie weitere hypothetische Fragestellungen in diesem Kontext stellen sich deshalb für die EnBW nicht.‘
Auf mittlere Sicht aber macht die Situation vor allem deutlich, dass Deutschland von einer Energiewende doppelten Gewinn hat. Sie verbessert nicht nur die Klimabilanz, sondern macht uns auch unabhängiger.
Am schnellsten wäre wohl eine Ausweitung der Biogasproduktion möglich. Der Bundesverband Erneuerbare Energien, BEE, rechnet vor, dass die verdoppelt werden könnte, wenn man das technische Potential ausschöpft.
Grundsätzlich können weite Bereiche mit Strom aus Windkraft- und Solaranlagen versorgt werden. Wärmepumpen können Gebäude heizen und E-Autos die Verbrenner ersetzen. Selbst in der Industrie kann Strom an vielen Stellen fossile Energien ersetzen. Allerdings nicht als Rohstoff. Deshalb braucht die Wirtschaft zusätzlich – und nicht alternativ zu Strom – noch Wasserstoff und synthetische Kohlenwasserstoffe. Auch die müssen – sollen sie klimafreundlich sein – mit Hilfe Erneuerbarer Energien hergestellt werden. Das Ziel der Bundesregierung für 2030: dann sollen 80% des Stroms zumindest aus Erneuerbaren Quellen kommen. Bei gleichzeitig wachsendem Strombedarf setzt das mindestens eine Verdreifachung bei Solarstrom und eine Verdoppelung bei Windstrom voraus.“

Das Fazit der Wirtschaftswoche am 25.02.2022 lautete: „Nord Stream 2 ist politisch tot, die Gaspreise sind außer Kontrolle – und die ganze Strategie der deutschen Transformation steht plötzlich in Zweifel. Es gibt keine Energiewende mehr. Jedenfalls keine, die man noch allein als klima- und industriepolitisches Großprojekt begreifen und betreiben könnte.“

Noch fließe Gas über Pipelines aus dem Osten nach Europa und Deutschland. Noch seien Ausschläge auf den Rohstoffmärkten, vor allem bei Gas, das gravierendste energiepolitische Problem, mit dem die Bundesregierung nach  der Ukraine-Invasion umzugehen hat. Habecks Wirtschaftsministerium hatte die „fossile Inflation“ schon vor der jüngsten Eskalation angesprochen und will die Energiewende massiv beschleunigen. Deutschland befinde sich in der „energiepolitischen Abhängigkeit von einem Despoten“, so Habeck, es gebe eine „Einschränkung der Souveränität“. Das erzeuge neue Belastungen für de Haushalt. Gleichzeitig kann es für die Umsetzung der Energiewende, verstanden als strategischer Prozess zum Lösen aus fossiler Abhängigkeit, nur einen Weg geben: schneller und konsequenter.

Habeck wollte im ARD-Bericht aus Berlin am 27.02.2022 nicht ausschließen, dass die Weiterverwendung von Kohle zur Stromerzeugung noch einmal gepprüft werde müsse. Den Atomausstieg zu verschieben werde uns für den Winter 2022/23 „nicht helfen“. Die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen verurteilten unterdessen nicht nur die russische Invasion scharf. Sie bekräftigten auch, dem „Wandel hin zu einer treibhausgasneutralen Wirtschaft und der Klimaneutralität“ verpflichtet zu bleiben und die Möglichkeit zu prüfen, „einen offenen und kooperativen internationalen Klimaclub ins Leben zu rufen“.

->Quellen: