„Nichts weniger als unsere eigene Existenz steht auf dem Spiel“

Berliner Erklärung von Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und Museum für Naturkunde Berlin

Dreißig Jahre nach der UNCED, der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 fordert ein breites Wissenschaftsbündnis die Politik zu entschlossenem Handeln auf. Damals hatten sich Politiker von 179 Staaten getroffen und sich auf zentrale Nachhaltigkeitsziele geeiningt. „Der Erdgipfel im Jahre 1992 war ein umweltpolitischer Meilenstein“, schrieb der Berliner Tagesspiegel am 20.05.2022. Am Tag zuvor hatten zahlreiche renommierte Forscher ein Positionspapier veröffentlich; Federführend für die Berliner Erklärung waren drei Leibniz-Naturforschungsmuseen: das Museum für Naturkunde Berlin, das Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels und die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung.

Oft trügt die Idylle – Fluss bei Berlin – Foto © Gerhard Hofmann

„Nichts weniger als unsere eigene Existenz steht auf dem Spiel“, heißt es in der Erklärung. „Wir führen einen Kampf gegen die eigene Zukunft, aber es ist unfair, denn die Zukunft kann sich nicht wehren“, sagte Gewässerökologe Klement Tockner bei der Vorstellung der Erklärung.

Madienmitteilung: Die Berliner Erklärung

Dreißig Jahre nach dem ersten Weltnaturgipfel in Rio de Janeiro sind der Verlust der Artenvielfalt und der globale Klimawandel die größten und drängendsten Herausforderungen der Zukunft. Nichts weniger als unsere eigene Existenz steht auf dem Spiel. Unter der Federführung der drei Leibniz-Naturforschungsmuseen ruft ein breites Bündnis renommierter Forscher:innen in ihrer heute veröffentlichten „Berliner Erklärung“ Deutschland dazu auf, der besonderen Verantwortung der G7-Präsidentschaft bei der Bekämpfung dieser „Zwillingskrise“ gerecht zu werden. Der derzeit für Ende August geplante Weltnaturgipfel (CBD COP15) böte die historische Gelegenheit einer dringend notwendigen Trendumkehr zugunsten von mehr Klima- und Biodiversitätsschutz. In ihrem Positionspapier präsentieren die Forschenden konkrete Handlungsempfehlungen mit „naturbasierten Lösungen“als einem wesentlichen Schlüssel zum Erfolg.

Seit dem 16. Jahrhundert sind mindestens 680 Wirbeltierarten ausgestorben. Prognosen zufolge könnten wir weltweit innerhalb der nächsten Jahrzehnte 40 Prozent aller Insekten verlieren. 75 Prozent der natürlichen Landökosysteme und etwa 66 Prozent der Meeresökosysteme sind bereits erheblich beeinträchtigt oder gar zerstört worden – rund 3,2 Milliarden Menschen sind hiervon heute schon betroffen. „Gelingt es uns in dieser Dekade nicht, den katastrophalen Verlust der Biologischen Vielfalt aufzuhalten, laufen wir Gefahr, bis zu einer Million Arten zu verlieren und 80 Prozent der Nachhaltigkeitsziele sowie zentrale Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens nicht zu erreichen!“, warnt Prof. Dr. Johannes Vogel, Generaldirektor am Museum für Naturkunde Berlin und fährt fort: „Der ungebremste Verlust der Biodiversität und die zunehmende Erderwärmung sind die Herausforderungen für die Zukunft unserer Gesellschaft Zukunft.“

In der am 19.05.2022 unter der Federführung der Direktoren der drei Leibniz- Naturforschungsmuseen veröffentlichten zweiseitigen „Berliner Erklärung“ fordert ein breites Bündnis von Forschenden Deutschland zu energischeren Anstrengungen für ein Gelingen des Weltnaturgipfels auf. Mit der derzeitigen G7-Präsidentschaft trage Deutschland eine besondere Verantwortung, habe aber gleichzeitig erhebliches Potenzial, jetzt entscheidende Beiträge zur Bewältigung der „Zwillingskrise“ zu leisten. Um der Führungsrolle gerecht zu werden, schlagen die Forschenden in der „Berliner Erklärung“ eine Reihe konkreter Maßnahmen vor – allen voran „naturbasierte Lösungen“. Unter diesen versteht man Maßnahmen zum Schutz, zur nachhaltigen Bewirtschaftung und Wiederherstellung natürlicher oder veränderter Ökosysteme, die gleichzeitig dem menschlichen Wohlergehen und der Artenvielfalt zugutekommen. So soll sich Deutschland beispielsweise beim Weltnaturgipfel Ende August mit Nachdruck dafür einsetzen, dass bis 2030 global 30 Prozent der Land- und Meeresflächen wirksam geschützt und weitere 20 Prozent renaturiert werden. Eine klare Priorisierung des nachhaltigen Schutzes der arten- und kohlenstoffreichsten Gebiete der Erde sei dabei essenziell.

Zudem müsse deutlich mehr Geld in den Biodiversitätsschutz investiert werden: Um der Verantwortung gegenüber dem globalen Süden gerecht zu werden, sollte Deutschland unter anderem die bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte „erhebliche“ Erhöhung von derzeit ca. 800 Millionen Euro auf vorerst mindestens zwei Milliarden Euro jährlich erhöhen. Mittelfristig seien 8 Milliarden Euro pro Jahr erforderlich. Der 2021 von Deutschland ins Leben gerufene internationale „Legacy Landscape Fund“ sei ein sehr mächtiges Instrument zum nachhaltigen Schutz der arten- und kohlenstoffreichsten Gebiete der Erde, so die Unterzeichner:innen: Eine Milliarde Euro an zusätzlichen privaten Mitteln könnten global mobilisiert werden, wenn zwei Milliarden Euro öffentliche Gelder investiert würden. Statt bisher sieben könnten so global bis zu 100 Großschutzgebiete dauerhaft für zukünftige Generationen gesichert werden. Laut der „Berliner Erklärung“ können die knapp 67 Milliarden Euro an jährlichen umweltschädlichen Subventionen in Deutschland, von denen rund 90 Prozent als klimaschädlich eingestuft sind, für die Finanzierung solcher Maßnahmen genutzt werden. Diese öffentlichen Mittel sollten so eingesetzt werden, dass sie positiv sowohl auf den Erhalt der Natur als auch auf den Klimaschutz wirken.

Prof. Bernhard Misof, Direktor am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels: „Wir können die ‚Zwillingskrise‘ nur gemeinsam und mit der Natur bewältigen. Es gilt Synergien zu nutzen. Negative Auswirkungen auf die jeweils andere Krise müssen explizit vermieden werden. Führende Wissenschaftler:innen und Ökonom:innen sehen ’naturbasierte Lösungen‘ als eine wirtschaftlich effiziente Möglichkeit an, um die Erhaltung von Ökosystemen und Renaturierungen voranzutreiben. Hierdurch wird die für uns Menschen wertvolle Biodiversität geschützt und gleichzeitig wird die globale Erwärmung nachhaltig eingedämmt. Investitionen in ’naturbasierten Lösungen‘ generieren Vorteile mit hohem Nutzen in monetärer und nicht monetärer Hinsicht. Allein durch den Schutz von Mangrovenwäldern können jährlich 80 Milliarden US-Dollar an Schäden vermieden werden und damit gleichzeitig 18 Millionen Menschen geschützt werden.“

Der Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und Initiator der „Berliner Erklärung“ Prof. Klement Tockner fasst zusammen: „Wir benötigen klare Prioritäten beim Schutz und beim aktiven Management der Natur. Die wissenschaftlichen Fakten liegen auf dem Tisch – und sind überzeugend! Wir verlieren mit der biologischen Vielfalt die ‚Bibliotheken der Natur‘ in einer ungeahnten Geschwindigkeit – um das mehr als 100-fache im Vergleich zum natürlichen Verlust. Es mangelt jedoch noch immer an Problembewusstsein, Mut zum Handeln und an einer entschlossenen, wirksamen Umsetzung durch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Nur mit einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation im Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen können die notwendigen Ziele im Klima- und Biodiversitätsschutz erreicht werden. Wir sind es unseren Kindern, Enkelkindern und den späteren Generationen schuldig!“

Im Wortlaut: Die Berliner Erklärung zum Weltnaturgipfel 2022

Wir brauchen mehr Natur – national und international! Nachhaltige und naturbasierte Lösungen für den gemeinsamen Schutz von Klima und Biodiversität sind möglich

Dreißig Jahre nach der Unterzeichnung der ersten Internationalen Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt (22. Mai 1992) schreitet der Verlust dieser einzigartigen Vielfalt ungebremst voran. Der Rückgang der biologischen Vielfalt und die zunehmende Erderwa?rmung sind die gro?ßten und dra?ngendsten Herausforderungen fu?r die Zukunft der Menschheit. Nichts weniger als unsere eigene Existenz steht auf dem Spiel. Der derzeit fu?r Ende August geplante Weltnaturgipfel (CBD COP15) bietet die historische Gelegenheit einer dringend notwendigen Trendumkehr zugunsten von mehr Klima- und Biodiversitätsschutz. Deutschland kommt dabei wegen der G7-Pra?sidentschaft eine herausragende Rolle zu. Die Wissenschaft steht bereit, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.

Eine historische Chance zur Trendwende

Ohne schnelle, tiefgreifende und flächendeckende Maßnahmen laufen wir Gefahr, dass unsere Erde in den nächsten Jahrzehnten eine Million Arten verlieren und einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 3° C erfahren wird. Wir benötigen daher jetzt klare Prioritäten zum Schutz und aktiven Management der Natur zur Sicherung unserer eigenen Zukunft. Die wissenschaftlichen Fakten liegen auf dem Tisch. Sie sind eindeutig. So übersteigt die aktuelle Aussterberate den natürlichen Verlust an Arten um das bis zu 100-fache. Zwei konkrete Beispiele: Von 1970 bis 2012 sanken weltweit die Populationen großer, bekannter Süßwasserarten – wie Fluss-Delphine, Störe oder Krokodile – um 88 Prozent; so sind 24 der insgesamt 26 Störarten vom Aussterben bedroht. Der jährliche weltweite ökonomische Verlust durch das aktuelle Artensterben wird auf etwa 4 Billionen US- Dollar geschätzt. Und trotz der immensen Bedrohung mangelt es noch immer an Problembewusstsein, Mut zum Handeln und an einer wirkmächtigen Umsetzung durch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Der 1. Weltnaturgipfel fand vor 30 Jahren im Frühjahr 1992 in Rio de Janeiro statt. Der vor uns liegende 15. Weltnaturgipfel (Vertragsstaatenkonferenz des UN-Übereinkommens über die biologische Vielfalt, CBD COP 15) im Spätsommer 2022, voraussichtlich in Kunming (China), muss ambitionierte, konkrete und überprüfbare Ziele zum globalen Schutz der biologischen Vielfalt festlegen – auch um die Klimaschutzziele zu erreichen. Gleichzeitig muss die grundlegende gesellschaftliche Transformation im Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen beschleunigt werden.

Ein zentraler Lösungsansatz: Mehr Natur wagen

Naturbasierte Lösungen (NbS) sind von der Natur inspiriert. Wenn sie richtig geplant und umgesetzt werden, sind naturbasierte Lösungen kosteneffizient und bieten vielfältige Vorteile für die Natur, das Klima und den Menschen, wie z.B. durch die Ausweitung von Naturschutzgebieten, die Wiederherstellung von Mooren, aber auch die Dachbegrünung in Städten. Sie können einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten: Naturbasierte Lösungen sind notwendig, um mit geringeren Kosten rasch mindestens ein Drittel der Kohlenstoffemissionen einzusparen, weltweit natürliche Kohlenstoffspeicher zu stärken und somit die Pariser Klimaziele bis 2030 doch noch zu erreichen. Denn ohne den Schutz natürlicher und ohne die Renaturierung degradierter Ökosysteme ist es kaum möglich, die globale Erderwärmung unter 2°C zu halten. Naturbasierte Lösungen können jedoch nur dann ihre volle Wirksamkeit entfalten, wenn zugleich die Emissionen aus fossilen Energieträgern drastisch reduziert werden. Dabei steht das 1.5° C-Ziel im Vordergrund.

Verantwortung und Chance für Deutschland Deutschland trägt eine große Verantwortung und hat erhebliches Potenzial, jetzt entscheidende Beiträge zur Bewältigung der Zwillingskrise des Rückgangs der biologischen Vielfalt und der zunehmende Erderhitzung zu leisten. Dazu müssen Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik international, national und regional deutlich enger zusammenarbeiten als bisher, um die folgenden Punkte umzusetzen:

  1. Deutschlands G7-Präsidentschaft gilt es zu nutzen, um sicher zu stellen, dass die Mitgliedstaaten ihre im vergangenen Jahr eingegangenen Verpflichtungen „die Finanzbeiträge für NbS bis 2025 zu erhöhen, die Synergien zwischen Klima- und Biodiversitätsfinanzierung zu maximieren und Finanzierungen zu fördern, die einen gemeinsamen Nutzen für Klima und Natur haben“, jetzt mit konkreten, ambitionierten Zusagen unterlegen. Deutschland muss dabei seine eigene Verantwortung gegenüber dem globalen Süden dokumentieren – unter anderem durch die bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte „erhebliche“ Erhöhung von derzeit ca. 800 Millionen Euro auf vorerst mindestens zwei Milliarden Euro jährlich. Mittelfristig sind 8 Milliarden Euro pro Jahr erforderlich.
  2. Beim Weltnaturgipfel muss Deutschland sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass bis 2030 global 30 Prozent der Land- und Meeresflächen wirksam geschützt und weitere 20 Prozent renaturiert werden. Eine klare Priorisierung des nachhaltigen Schutzes der arten- und kohlenstoffreichsten Gebiete der Erde ist dabei essenziell.
  3. Deutschland unterstützt national und international eine engere Zusammenarbeit von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und philanthropischer Organisationen zum Klima- und Artenschutz, unter anderem durch folgende Maßnahmen:
    –   Der Ende 2020 von Deutschland ins Leben gerufene internationale Legacy Landscape Fund ist ein sehr mächtiges Instrument zum nachhaltigen Schutz der arten- und kohlenstoffreichsten Gebiete der Erde. Er tut dies unter enger Einbindung der indigenen Bevölkerung und lokalen Gemeinschaften und wahrt deren vollen Rechte. Eine Milliarde Euro an zusätzlichen privaten Mitteln können global mobilisiert werden, wenn zwei Milliarden Euro öffentliche Gelder investiert werden. Statt bisher sieben könnten so global bis zu 100 Großschutzgebiete dauerhaft für zukünftige Generationen gesichert werden.
    –  Deutschland setzt sich dafür ein, dass Lieferketten so gestaltet werden, dass sie nicht zur weiteren Zerstörung der Natur in den Ländern, aus denen die Importprodukte stammen, führen. Gleichzeitig muss mit Blick auf die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen der soziale Ausgleich und die Gerechtigkeit in der Welt gefördert werden.
    –   Für die Finanzierung solcher Maßnahmen können die knapp 67 Milliarden Euro an jährlichen umweltschädlichen Subventionen in Deutschland in den Bereichen Verkehr, Energie, Landwirtschaft und Gebäuden, von denen rund 90 Prozent als klimaschädlich eingestuft sind, radikal abgebaut oder naturgerecht umgestaltet werden. Das Anliegen muss sein, die öffentlichen Mittel so einzusetzen, dass sie positiv sowohl auf den Erhalt der Natur als auch auf den Klimaschutz wirken.
    –   Deutschland setzt sich für die Etablierung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von IPBES und IPCC ein, auf dem ersten gemeinsamen Bericht in 2021 zu Biodiversität und Klima aufbauend. Diese Arbeitsgruppe erarbeitet den strategischen Rahmen für die globale und nationale Umsetzung naturbasierter Lösungen, insbesondere der Schutzgebiete- und Renaturierungsziele.

Diese Handlungsfelder werden die institutionellen Fähigkeiten, Finanz- und Produktmärkte sowie technologischen Kompetenzen Deutschlands und der Weltgemeinschaft fordern, diese zugleich aber deutlich und nachhaltig stärken. Deutschland kann viel in die Waagschale werfen.

Kein Land ist dafür besser aufgestellt, keine Aufgabe ist dringlicher.

->Quellen: