Europa braucht mehr zivilgesellschaftliches Engagement

Zivilgesellschaft in Europa springt immer häufiger dort ein, wo der Staat zu kurz greift

Der Krieg in der Ukraine verdeutlicht dies, so etwa im Falle geflüchteter Frauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten unermüdlich, um ihnen und anderen schnell und unbürokratisch zu helfen. Doch ihr Einsatz birgt Risiken: Attacken in den sozialen Medien, gerichtliche Klagen und persönliche Angriffe sind keine Seltenheit. Das zeigt die Umfrage Allianz Foundation Risktaker Pulse, die in fünf europäischen Ländern durchgeführt wurde.

Allianz Foundation Risktaker Puls – Wie soziale Bewegungen in Europa für eine bessere Zukunft kämpfen – Titel © Allianz Foundation

„Ziel unserer Untersuchung war es, mehr über den Einfluss und die Bedarfe von zivilgesellschaftlichen Risktakern zu erfahren, also Menschen und Organisationen, die mit viel Mut für eine lebenswerte Welt einstehen. Ihr Einsatz in und für die Ukraine unterstreicht, wie sehr die Wirkung ihrer Netzwerke und agilen Strukturen bislang noch unterschätzt wird“, erklärt Simon Morris-Lange, Forschungsleiter der Allianz Foundation.

Ukraine im Fokus

Die Studie, die im Auftrag der Allianz Foundation durchgeführt wurde, basiert auf Tiefeninterviews mit 59 zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien und Polen. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, der den Untersuchungszeitraum prägte, bestimmt ihre derzeitige Arbeit: Finanzielle Mittel, organisatorisches Know-how und zielgruppenspezifische Expertise wurden kurzfristig für den Einsatz in Kriegsgebieten und für Geflüchtete aktiviert. Gerade dort, wo staatliches Handeln Defizite aufweist, kann die Zivilgesellschaft helfen: etwa bei der Unterstützung von Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, oder der Hilfe für Menschen außereuropäischer Herkunft, die aus der Ukraine geflüchtet sind und häufig nicht dieselbe Hilfsbereitschaft erfahren wie Menschen mit ukrainischem Pass.

Die Befragten bemängeln diese ‚blinden Flecken‘ und nutzen ihre europaweiten Netzwerke, um schnell und unbürokratisch zu helfen. Eine Interviewpartnerin und ihre NGO konnten mithilfe informeller Kontakte in Polen und der Ukraine bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn eine Rettungsaktion für besonders gefährdete Kinder und Jugendliche starten. Eine andere berichtet, wie sie und ihr Team innerhalb von zehn Tagen eine Million Euro Spenden gesammelt und direkt an ukrainische Hilfsorganisationen weitergeleitet haben.

„Das Wichtigste ist, dass Sie sich jedes Mal auf jede erdenkliche Weise einbringen, mit Ihren Fähigkeiten, Ihrem Netzwerk und Ihrer Leidenschaft. Wenn Sie nicht bereit sind, Teil der Lösung zu sein, dann sind Sie standardmäßig Teil des Problems. Indem Sie einfach auftauchen, werden Sie andere dazu inspirieren, das Gleiche zu tun, und so werden Bewegungen geschaffen“, sagt Zamzam Ibrahim von Students Organising for Sustainability, United Kingdom.

Ihr unermüdlicher Einsatz für die Menschen in der Ukraine stellt Risktaker vor gewaltige Herausforderungen. Doch auch abseits des Kriegs geraten viele von ihnen zunehmend unter Druck, besonders diejenigen, die sich für die Rechte von Zugewanderten und der LGBTQ+ Gemeinschaft einsetzen. Sie berichten von regelmäßigen Attacken und Schmierkampagnen in den sozialen Medien. Aber die Bedrohung geht häufig darüber hinaus und reicht bis hin zu gerichtlichen Klagen gegen sie und ihre Organisationen sowie persönliche Angriffe. Die Folge: Einige der Interviewten klagen über psychischen Stress und Überforderung.

„Ohne den Mut, die Überzeugung und den Einsatz von Risktakern auf allen Ebenen unserer Gesellschaft sind die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht zu lösen. Gleichzeitig erkennen wir, dass die gesellschaftlichen und politischen Krisen der letzten Jahre die Zivilgesellschaft in einen Erschöpfungszustand versetzt haben. Hier gilt es, entschieden gegenzusteuern“, empfiehlt Esra Kücük, Vorstand der Allianz Foundation.

Für die europäische Zivilgesellschaft und ihre Finanziers liefere die explorative Untersuchung wertvolle Einblicke und Anregungen, auch auf die Frage hin, wie die grenzübergreifenden Netzwerke von Risktakern in Zukunft mehr Wirkung entfalten könnten, so die Forschenden der Allianz Foundation.

Die Umfrage wurde von März bis Juni 2022 von der Forschungs- und Beratungsfirma NFLUENCE|SG durchgeführt. Die interviewten Risktaker vertreten Nichtregierungsorganisationen, Sozialunternehmen und weitere Einrichtungen, die sich aktiv für marginalisierte Menschen, offene Gesellschaften und den Klimaschutz engagieren.

„Die Anführer sozialer Bewegungen sind die Risikoträger von heute und kämpfen für eine gerechtere und widerstandsfähigere Gesellschaft. Diese Studie in Zusammenarbeit mit der Allianz Stiftung ist für alle, die in den sozialen Bewegungen von heute eine wichtige Rolle spielen, von entscheidender Bedeutung, fasst Derrick Feldmann zusammen. Feldmann ist Experte für soziale Bewegungen und Forschungsleiter der Allianz Stiftung Risktaker Pulse.

->Quelle und Umfrage: