Alarmsignal im Hinblick auf Klimagrenze – Wissing in der Kritik

Rückkehr der Kohle macht Energiespareffekte zunichte und gefährdet Klimaziele

2022 ist die für die deutschen Klimaziele erforderliche Reduktion der CO2-Emissionen ausgeblieben: Deutschlands Treibhausgasausstoß stagnierte bei rund 761 Mio. t CO2. Das zeigen die von Agora Energiewende veröffentlichten Berechnungen nach Auswertung des Energiejahres 2022 unter dem Titel: „Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2022“. Demnach lag die Emissionsminderung 2022 im Vergleich zum Referenzjahr 1990 bei knapp 39 Prozent und damit zum zweiten Mal hinter dem (2020 erreichten) Klimaziel von 40 Prozent. „Die CO2-Emissionen stagnieren auf hohem Niveau, und das trotz eines deutlich niedrigeren Energieverbrauchs von Haushalten und Industrie. Das ist ein Alarmsignal im Hinblick auf die Klimaziele“, sagte Simon Müller, Direktor Deutschland bei Agora Energiewende.

Kohlekraftwerk Reuter West, Berlin – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft, für Solarify .JPG

Laut der Agora-Auswertung ist der Energieverbrauch in Deutschland um 4,7 Prozent beziehungsweise 162 Terawattstunden (TWh) gegenüber 2021 zurückgegangen, unter anderem infolge der massiven Preissteigerungen bei Erdgas und Strom sowie milder Witterung. Der Verbrauch sank unter das Niveau im Corona-Jahr 2020 und damit auf den tiefsten Stand im wiedervereinigten Deutschland. Der verstärkte Einsatz von Kohle und Öl machte die Emissionsminderungen durch Energieeinsparungen jedoch zunichte: Das Reduktionsziel für 2022 von 756 Mio. t CO2, das sich aus der Summe der CO2-Vorgaben für die Bereiche Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie, Land- und Abfallwirtschaft ergibt, wurde um 5 Mio. t knapp verfehlt. Und das, obwohl der Anteil der Erneuerbaren Energien am Stromverbrauch witterungsbedingt einen neuen Höchstwert von 46,0 Prozent erreichte.

 2021 verfehlte der Verkehrssektor sein gesetzlich vorgeschriebenes Ziel um drei Millionen Tonnen CO2. Klimaminister Robert Habeck hat den Verkehrssektor denn auch als „größtes Sorgenkind“ bezeichnet und seinen Kabinettskollegen Wissing kritisiert: „Alle bisher vorgesehen Maßnahmen reichen nicht, um hier die große CO2-Lücke zu schließen.“ Verkehrsminister Wissing zieht insgesamt mehr und mehr Kritik auf sich – verstärkt durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags (siehe handelsblatt.com/gutachten-minister-wissing-verstoesst-gegen-das-klimaschutzgesetz), laut dem der Verkehrsminister gegen Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstößt. Die Ampel-Parteien hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag auf feste Einsparziele geeinigt. Klimaschutzminister Robert Habeck erhöhte nun koalitionsintern den Druck: 2023 wolle er deutliche Fortschritte beim Klimaschutz im Verkehr sehen, sagte der Grünen-Politiker der Nachrichtenagentur dpa. Es müsse noch eine große Lücke geschlossen werden. „Jetzt müssen wir sehen, wie wir da in diesem Jahr weiterkommen.“ Bisherige Maßnahmen reichten nicht aus, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Und Wissing hätte schon längst neue Maßnahmen vorschlagen müssen. (tagesschau.de/verkehr-klimaschutz-habeck)

„2022 sind die Klimaziele aufgrund kurzfristiger Maßnahmen für die Energiesicherheit ins Hintertreffen geraten. Auch das im Koalitionsvertrag für 2022 angekündigte Klimaschutzsofortprogramm ist die Regierung schuldig geblieben“, so Müller. Dabei sei die Zustimmung zur Energiewende in der Bevölkerung deutlich gewachsen. Haushalte und Unternehmen wollten zu klimaneutralen Technologien wechseln und die Nachfrage nach Solaranlagen oder Wärmepumpen sei in die Höhe geschossen. „2023 muss die Regierung die Trendwende schaffen: raus aus den fossilen Energien und konsequent rein in die Erneuerbaren. Das hilft dem Klima, senkt die Preise und macht uns unabhängig von fossilen Energieimporten“, betont Müller.

Gebäude und Verkehr bleiben weiterhin hinter Klimazielen zurück

Die CO2-Emissionen aus der Energiewirtschaft stiegen laut Agora-Abschätzung 2022 erstmals wieder an und betrugen zum Jahresende 255 Mio. t CO2 (plus 8 Mio. t im Vergleich zu 2021). Haupttreiber war die höhere Verstromung von Kohle aufgrund stark gestiegener Erdgaspreise. In Summe wurde damit das im Klimaschutzgesetz vorgeschriebene Reduktionsziel von 257 Mio. t CO2 nur knapp eingehalten.

Der Verkehrs- und der Gebäudebereich verpassten hingegen erneut ihre Klimaziele: Der Gebäudebereich überzog mit 113 Mio. t CO2 das Sektorziel um 5 Mio. t. Der Einsparerfolg von minus 16 Prozent beim Erdgasverbrauch im Vergleich zum Vorjahr führte zwar zu einem Emissionsrückgang von 7 Mio. t CO2 gegenüber 2021, konnte aber die jahrelangen Versäumnisse bei der Wärmewende nicht ausgleichen. Im Verkehr lag der CO2-Ausstoß mit 150 Mio. t CO2 deutlich über dem erlaubten Wert von 139 Mio. t CO2. Gründe für die Zielverfehlung sind das nach dem Corona-Rückgang wieder angestiegene Verkehrsaufkommen und fehlende politische Maßnahmen zur Emissionsreduktion.

Die Industrie verzeichnete infolge von Spar- und Effizienzmaßnahmen sowie Produktionseinbußen mit 173 Mio. t CO2 einen leichten Emissionsrückgang um 8 Mio. t. Trotz verstärktem Einsatz von Kohle und Öl als Ersatz für Erdgas hielt der Industriesektor damit das Klimaziel ein. Doch auch hier fehlen bislang die strukturellen Maßnahmen, um auf Kurs für das 2030-Klimaziel zu kommen.

Erneuerbaren-Energien-Anteil steigt auf Rekordhoch

Der Agora-Auswertung zufolge produzierten Erneuerbare Energien im Jahr 2022 mit 248 TWh so viel Strom wie nie zuvor – ein Plus von 22 TWh beziehungsweise 10 Prozent gegenüber 2021. Dabei sei die Windkraft mit 126 TWh größter Stromlieferant unter den Erneuerbaren geblieben. Gleichzeitig sei die Stromproduktion aus Solaranlagen mit 60 TWh um 23 Prozent gegenüber 2021gestiegen – dank eines überdurchschnittlich guten Sonnenjahrs und eines Zubaus in Höhe von 7,2 Gigawatt (GW). Insgesamt habe die Erneuerbaren-Energien-Kapazität am Jahresende 148 GW und damit 9,6 GW mehr als 2021 betragen, so die Agora-Auswertung.

Dennoch warnt Müller: „Das Rekordjahr für die Erneuerbaren Energien ist wetterbedingt und damit kein struktureller Beitrag zum Klimaschutz.“ Deutschland steuere auf eine massive Lücke beim Erneuerbaren-Ausbau zu. „Insbesondere die Ausbau-Krise bei der Windenergie dauert an“, betont Müller. Hier seien 2022 nur rund 2 GW (GW) hinzugekommen. Insgesamt seien 2022 neun von zehn Ausschreibungen für Erneuerbare Energien unterzeichnet worden. „Die Regierung muss jetzt entschieden und schnell nachbessern, denn wir brauchen ab 2023 eine Verdreifachung beim Zubau, um das 2030-Erneuerbaren-Ziel zu erreichen“, sagt Müller. In den kommenden acht Jahren müsse hierfür der Zubau bei Solar auf 19 GW jährlich, bei Windkraft an Land auf 7 GW und bei Windkraft auf See auf knapp 3 GW im Jahresschnitt ansteigen.

Kohleverstromung legt infolge von Rekordpreisen für Erdgas deutlich zu

Die konventionelle Stromerzeugung sank 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 9 Prozent. Gründe waren der geplante Rückgang bei der Kernenergie, ein sinkender Stromverbrauch und das Plus bei den Erneuerbaren, das den leichten Exportanstieg übertraf. Deutschland exportierte 2022 38 Prozent mehr Strom nach Frankreich als im Vorjahr, vor allem aufgrund des Ausfalls von rund einem Drittel der französischen Kernkrafterzeugung seit April und dem Anstieg der vergleichsweise günstigeren Stromproduktion aus Kohle anstelle von Erdgas.

Insgesamt erzeugten konventionelle Kraftwerke 302 TWh Strom. Davon trugen Braunkohlekraftwerke mit 109 TWh den größten Teil bei (plus 7 Prozent im Vergleich zu 2021). Aus Steinkohlekraftwerken kam 20 Prozent mehr Strom, sodass sie auf 60 TWh kamen. Dahingegen sank die Erzeugung aus Gaskraftwerken um 16 Prozent auf 75 TWh. Nachdem Ende 2021 4 GW installierte Kernkraftleistung planmäßig vom Netz ging, lieferten Kernkraftwerke im vergangenen Jahr 33 TWh Strom (minus 50 Prozent im Vergleich zu 2021).

Die Kohle-Rückkehr war zum einen durch den hohen Erdgaspreis bedingt, der die Kohleverstromung fast über das ganze Jahr hinweg günstiger machte als den Einsatz von Gaskraftwerken. Zum anderen waren 2022 als Reaktion auf Gas-Versorgungsengpässe Kohlekraftwerke zurück ans Netz geholt worden, sodass Ende 2022 2 GW mehr Kohlekapazitäten im Markt waren als Ende 2021. „Die Rückkehr der Kohle steht im klaren Widerspruch zu den Klimazielen“, sagt Simon Müller. „Wir brauchen mehr Tempo beim Erneuerbaren-Ausbau, um Emissionen zu senken und wir müssen den Kohleausstieg 2030 absichern.“ Dies sei auch zentral, um die absehbar höhere Stromnachfrage durch mehr Elektroautos, Wärmepumpen und strombasierte Industrieprozesse klimafreundlich zu decken.

Fossile Energiepreisrallye prägt den Handel an der Strombörse

Erdgas-, Kohle- und Erdölpreise seien an den Großhandelsmärkten in Deutschland und Europa im Jahr 2022 auf Rekordhöhen gestiegen: Gegenüber dem Jahresmittelwert 2021 seien die Preise 2022 an den Energiebörsen im Durchschnitt um 167 Prozent für Erdgas gestiegen, um 157 Prozent für Steinkohle und um 54 Prozent für Mineralöl. Die Preisausschläge hätten den Strom- und Erdgasverbrauch ab März und dann gegen Jahresende nochmal deutlich gedrückt, als die hohen Strompreise für Haushalte in den Abschlagszahlungen sichtbar geworden seien, heißt es weiter.

Klimasofortmaßnahmen 2023 entscheiden über das Erreichen der Klimaziele

Müller erwartet, dass 2023 die Energiepreise voraussichtlich auf hohem Niveau bleiben, aber: „Gerade der schnelle Ausbau von Solarenergie kann die Preise zügig dämpfen.“ Neben dem Erneuerbaren-Turbo sei eine Elektrifizierungsoffensive durch Wärmepumpen in Haushalten und Industrie zentral. „Die Regierung muss jetzt schnell das Potenzial der Erneuerbaren Energien, von Effizienz und Elektrifizierung für die Krisenbewältigung aktivieren, so dass wir bis Ende 2023 unabhängiger von fossilen Energien und von deren volatilen Preisen sind.“

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