Meistdiskutierte Klimauntersuchungen 2023

Hitliste der Klimatologie

Nur in seltenen Fällen schaffen es klimawissenschaftliche Untersuchungen auf die Titelseite – so auch im vergangenen Jahr. Doch es gab Ausnahmen: Die Klimaforschung eines Ölkonzerns, die „menschlichen Kosten“ des Klimawandels und das angeblich zunehmende Schelfeis in der Antarktis waren einige der Themen in den meistbesprochenen wissenschaftlichen Untersuchungen des vergangenen Jahres (so David Zauner auf klimareporter.de). Eine bekam dabei viel Aufmerksamkeit sogar von KlimaskeptikerInnen. Das britische Klimaportal Carbon Brief stellt jährlich die 25 meistdiskutierten Klimastudien des vergangenen Jahres vor. Die Liste umfasst Forschungsarbeiten zu den Klimaprognosen eines großen Ölkonzerns, zu den menschlichen Kosten der globalen Erwärmung und zum katastrophalen Scheitern der Pinguinaufzucht – sowie den kuriosen Fall einer hochrangigen Arbeit, über die fast überhaupt nicht berichtet wurde.

Weltweite ‚Warming Stripes‘ – 1850-2017 – © Ed Hawkins, climate-lab-book.ac.uk, CC BY-SA 4.0

Die AutorInnen nutzten dafür Zahlen des Analysedienstes Altmetric. Altmetric ermittelt, wie häufig Forschungsarbeiten in Online-Artikeln, Blogs und sozialen Medien erwähnt werden. Jeder Arbeit wird entsprechend der ihr geschenkten Aufmerksamkeit eine Punktzahl verliehen.

Cryiosphere

Die in Cryosphere veröffentlichte Untersuchung „Change in Antarctic ice shelf area from 2009 to 2019“ (Veränderung der Schelfeisfläche in der Antarktis von 2009 bis 2019) erreichte mit Abstand die höchste Punktzahl für ein Klimapapier in den jährlichen Übersichten von Carbon Brief – die bisherige Höchstpunktzahl war 7.803 im Jahr 2022.

Die Untersuchung nutzt Satellitenbeobachtungen, um einen Datensatz über die Veränderungen der „Kalbungsfront“ – d. h. der Stelle, an der Eisberge abbrechen – und der Fläche der Schelfe, die die Antarktis umgeben, zwischen 2009 und 2019 zu erstellen. Sie zeigt, dass die Fläche der antarktischen Schelfe seit 2009 insgesamt um rund 5.300 Quadratkilometer (km2) zugenommen hat, wobei sich 18 Schelfe zurückzogen und 16 größere Schelfe an Fläche zunahmen. Insbesondere hat die Fläche der Schelfe auf der antarktischen Halbinsel (um 6.693 km2) und in der Westantarktis (um 5.563 km2) abgenommen, während sie in der Ostantarktis (um 3.532 km2) und auf den großen Ross- und Ronne-Filchner-Schelfen (um 14.028 km2) zugenommen hat, heißt es in der Studie.

Während die hohen Punktzahlen klimabezogener Arbeiten in den vergangenen Jahren in erster Linie auf die Berichterstattung in den Nachrichten zurückzuführen waren, taucht diese Arbeit in nur sieben Zeitungsberichten auf. Wie Studienautorin Prof. Anna Hogg von der Universität Leeds gegenüber Carbon Brief erklärt: „Es ist etwas ungewöhnlich, dass wir keine Pressemitteilung für die Studie herausgegeben haben, da wir davon ausgingen, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft, die den Datensatz benötigt, ihn auf natürliche Weise nutzen würde.“

Stattdessen ist der hohe Altmetric-Score des Papiers vor allem das Ergebnis einer großen Anzahl von Erwähnungen auf Twitter – mehr als 63.000 Beiträge von rund 48.000 Accounts. (Das Bewertungssystem von Altmetric sieht eine Gewichtung vor, so dass Nachrichtenartikel (mit einer Gewichtung von acht) einen größeren Einfluss haben als Tweets (0,25). Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das Papier von den Twitter-Konten einer Reihe prominenter Klimaskeptiker häufig zitiert wurde, um den Bedenken hinsichtlich des Klimawandels und des Verlusts des antarktischen Eises entgegenzutreten. Diese Beiträge wurden dann in großem Umfang von anderen Accounts retweetet.

Dass die Studie „als Beweis dafür verwendet wird, dass der Klimawandel nicht stattfindet“, sei eine „echte Überraschung“, so Hogg, da die Studie „keine derartige Aussage enthält“. Die in der Studie festgestellte Zunahme der Schelfeisfläche in der Ostantarktis schmälert laut Hogg nicht die Risiken eines Rückzugs der Schelfeisflächen in anderen Teilen des Kontinents: „Der Rückgang der Schelfeisfläche in der Westantarktis ist besonders wichtig, da diese Schelfeisfläche den Eisfluss des dahinter liegenden Eisschildes aktiv ‚abstützt‘, was durch eisdynamische Prozesse einer der Gründe ist, warum die Westantarktis erheblich zum heutigen Meeresspiegelanstieg beiträgt.“

Nature Climate Change

Die siebte Veröffentlichung, über die im Jahr 2023 am meisten gesprochen wird, ist eine Studie in Nature Climate Change, die davor warnt, dass das beschleunigte Abschmelzen des Schelfeises in der Westantarktis selbst bei den ehrgeizigsten Szenarien zur Emissionsreduzierung nicht mehr aufzuhalten ist. Die Autoren kommen zu diesem eindeutigen Schluss: „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Abschwächung von Treibhausgasen jetzt nur noch begrenzt in der Lage ist, eine Erwärmung der Ozeane zu verhindern, die zum Zusammenbruch des westantarktischen Eisschildes führen könnte.“

Die irreführende Art und Weise, in der die Untersuchung von einigen klimaskeptischen Konten in den sozialen Medien verwendet wurde, war eine „unglaubliche Herausforderung“, sagt Hogg, und die Autoren waren nicht in der Lage, „auf jeden falschen Tweet“ über ihre Arbeit zu antworten. Sie fanden jedoch „eine ganze Reihe“ von Antworten von anderen Konten, „die besagten, dass sie das Papier gelesen hatten und es keine Beweise gegen den Klimawandel enthielt“.

Dies zeige vielleicht, dass „der offene Zugang seine Aufgabe erfüllt“, so Hogg, da die Arbeit in einer Open-Access-Zeitschrift veröffentlicht wurde und somit für jeden frei zugänglich ist. Eine weitere wichtige Statistik ist, dass das vollständige Papier inzwischen mehr als 150.000 Mal auf der Website der Zeitschrift aufgerufen wurde.

ExxonMobil wusste alles

Auf dem zweiten Platz mit einer Altmetric-Punktzahl von 8.686 landet die Übersichtsarbeit „Assessing ExxonMobil’s global warming projections„. Die in Science veröffentlichte Studie analysiert die von Wissenschaftlern des Ölkonzerns ExxonMobil zwischen 1977 und 2003 dokumentierten und modellierten Prognosen zur globalen Erwärmung.

Die Ergebnisse zeigen, dass „ExxonMobil in privaten und akademischen Kreisen seit den späten 1970er und frühen 1980er Jahren die globale Erwärmung korrekt und geschickt vorausgesagt hat“, heißt es in der Untersuchung: „Die von ExxonMobil prognostizierte durchschnittliche Erwärmung betrug 0,20 °C ±0,04 °C pro Jahrzehnt, was mit einer gewissen Unsicherheit mit den zwischen 1970 und 2007 veröffentlichten Prognosen unabhängiger Wissenschaftler und Regierungen übereinstimmt.“ ExxonMobil wusste also „schon vor Jahrzehnten so viel über die globale Erwärmung wie akademische und staatliche Wissenschaftler“. Doch während diese Wissenschaftler sich bemühten, ihr Wissen zu vermitteln, „arbeitete ExxonMobil daran, es zu leugnen“, heißt es in der Studie weiter.

Über die Untersuchung wurde in 823 Nachrichtenbeiträgen von 555 Sendern berichtet, darunter BBC News, Associated Press, CNN, Vice, CNBC und Inside Climate News. Außerdem wurde sie in 48 Blogbeiträgen und mehr als 13.000 Tweets erwähnt. Es ist die zwölftmeistdiskutierte Veröffentlichung zu einem beliebigen Thema im Jahr 2023.

Extreme Hitze – Nature Medicine

An dritter Stelle steht die Nature Medicine-Studie „Heat-related mortality in Europe during the summer of 2022“ mit 7.821 Punkten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 60.000 Todesfälle im Sommer 2022 – der heißesten Jahreszeit in Europa – mit der Hitze in Verbindung stehen. Zu den höchsten Todeszahlen führte die Hitze in Italien (rund 18.000), gefolgt von Spanien (11.300) und Deutschland (8.200). Die höchsten Mortalitätsraten – also Hitzetote in Relation zur Bevölkerungsgröße – wiesen Italien, Griechenland und Spanien auf.

Die große Aufmerksamkeit lässt sich vermutlich auch mit dem Veröffentlichungszeitpunkt erklären. Die Studie erschien im Juli, während besonders Südeuropa unter der Hitzewelle „Cerberus“ ächzte. Der Sommer 2022 war in Europa der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die hitzebedingte Sterblichkeit lag bei Frauen etwas höher als bei Männern, ergab die Studie. Daraus schließen die AutorInnen, dass Präventionspläne nicht nur Alters-, sondern auch Geschlechtsunterschiede berücksichtigen sollen.

Gerade in Städten wird die Wirkung von Hitzewellen auf Menschen auch von deren Einkommen bestimmt. So zeigte eine Untersuchung am Beispiel von Los Angeles, dass die Hitzebelastung in ärmeren Vierteln wesentlich höher war. Weniger Parks, Wasserflächen und Bäume in einkommensschwachen Stadtteilen sind hauptsächlich dafür verantwortlich. Ein ähnliches Muster beobachten ForscherInnen auch in Deutschland. Auch hier leben ärmere Bevölkerungsgruppen unter schlechteren Wohnbedingungen, bei schlechterer Dämmung und ohne Ausweichräume, wie etwa ein Ferienhaus im Grünen.

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