Französischer Tabubruch – Chancen der Zusammenarbeit

Die Energiewende in Frankreich – Aufbruch zu einem neuen Energiemodell?

von Andreas Rüdinger, Institut für Nachhaltige Entwicklung und Internationale Beziehungen in Paris

Der Artikel erschien im September 2014 in der Reihe „Internationale Politikanalyse“ der Friedrich-Ebert-Stiftung

  • Im Anschluss an die nationale Debatte zur Energiewende hat die französische Regierung im Sommer 2014 ein Gesetz vorgestellt, das den Weg für einen Umbau des Energiesystems ebnen soll. Dieses Gesetz lässt sehr ambitionierte langfristige Ziele erkennen, die darauf abzielen, mit der strukturellen Pfadabhängigkeit gegenüber dem historischen Energiemodell zu brechen.
  • Diese Neuauslegung der französischen Energiepolitik kann auch für Deutschland und Europa positive Konsequenzen haben. Sowohl in Bezug auf die strukturellen Herausforderungen als auch hinsichtlich der Ziele zeigt sich eine erstaunliche Konvergenz zwischen der deutschen und französischen Strategie, die in Zukunft auf bilateraler und europäischer Ebene neue Kooperationsmöglichkeiten eröffnet.
  • Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob Frankreich den Willen hat, diese Vision in spezifische Maßnahmen einzubetten. Dabei werden neben technischen Fragen zwei Aspekte entscheidend sein: die Entwicklung geeigneter Finanzierungsmechanismen und die progressive Öffnung hin zu einer zunehmenden Dezentralisierung der Energiepolitik.

Während sich im Frühjahr 2014 die energiepolitische Debatte in Deutschland ausschließlich auf die Reform des EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) fokussierte, kam es auch in Frankreich, von den deutschen Medien eher unbeachtet, zu strukturellen Veränderungen. Auf ein Wahlversprechen von 2012 aufbauend brachte die Regierung um Präsident François Hollande einen Gesetzesentwurf ein, der darauf abzielt, in Frankreich eine umfassende Energiewende einzuleiten. Der politische Aufhänger dieses Gesetzes ist, bis 2025 den Anteil der in Frankreich historisch dominanten atomaren Stromerzeugung von aktuell 75 Prozent auf 50 Prozent zu reduzieren. Ähnlich wie in Deutschland ist diese Entscheidung in eine umfassendere Strategie eingebettet, mit der sich Frankreich im Vorfeld der internationalen Klimakonferenz 2015 als Vorreiter der Energiewende und der Klimapolitik etablieren möchte. Über den energiepolitischen Rahmen hinaus wurde das Gesetz von Präsident Hollande selbst als ein „Meilenstein der aktuellen Regierungsperiode“ bezeichnet, das den Weg hin zu einer grünen Wachstumsstrategie ebnen soll.

Wie realistisch ist dieses Ziel und wie lässt es sich politisch erklären?; Wie soll die französische Energiewende realisiert werden? Und inwiefern kann dies im Rahmen aktueller Debatten zum künftigen europäischen Energie- und Klimapaket 2030 und hinsichtlich der bilateralen Kooperation auch für die deutsche Politik relevant sein?;

1. Die Geschichte der Energiepolitik in Frankreich: die Macht des Atoms

Bislang haben sich deutsche Beobachter nur wenig für die Energiepolitik Frankreichs interessiert. Zu stark schien das Land von seiner Atomstrategie geprägt zu sein, zu verfangen in seinem historisch sehr zentralisierten und staatlich kontrollierten Energiemodell, um für die deutsche Energiepolitik von Bedeutung zu sein. Wie so oft ist es nützlich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um zu verstehen, welche Entwicklungen in Frankreich stattgefunden haben und inwieweit diese noch heute die politischen Debatten vereinnahmen.

Der politische Stellenwert der Atomkraft in Frankreich hat seinen Ursprung am Anfang des 20. Jahrhunderts, und zwar in der Wissenschaftsgeschichte Mit Henri Becquerel, Pierre und Marie Curie, lrene und Frederic Joliot-Curie und später Georges Charpak brachte Frankreich eine ganze Reihe von Nobelpreisträgern hervor, deren Arbeiten entscheidend für die militärische und zivile Nutzung der Atomkraft waren. Und auch in der Nachkriegszeit war es die schnelle Entwicklung der Atombombe, die es Frankreich ermöglichte, sich trotz seiner militärischen und wirtschaftlichen Schwächen im Sicherheitsrat der Vereinigten Nationen zu etablieren.

Die Weichen für das französische energiepolitische Modell wurden ebenfalls unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt: Bereits 1946 wurden per Gesetz drei staatlich kontrollierte Monopolunternehmen (Électricité de France (EDF) – Strom, Gas de France (GDF) – Gas, Charbonnages de France (CDF) – Kohle) gegründet, deren Aufgabe es sein sollte, den französischen Energiesektor zu modernisieren und insbesondere die Infrastruktur in den ländlichen Gebieten auszubauen.

Aufgrund der eher mageren Kohlereserven Frankreichs und der starken Erdölabhängigkeit der Stromerzeugung hatte die erste Erdölkrise 1973 auf Frankreich ungleich stärkere Auswirkungen als auf Deutschland. Noch im selben Jahr legte der damalige Premier Pierre Messmer seinen Plan vor, über die Atomkraft Frankreichs Energieunabhängigkeit zu stärken, mit dem erklärten Ziel, 4-6 Atomreaktoren pro Jahr zu bauen. Ohne dass diese Entscheidung jemals vom Parlament verabschiedet worden wäre, legte er damit den Grundstein für die Errichtung des größten Kernkraftwerkparks Europas 55 der 58 bestehen Reaktoren (63 GW) wurden zwischen 1970 und 1984 gebaut, durchschnittlich sind die französischen Reaktoren seit 30 Jahren in Betrieb. Insgesamt trug die Atomkraft in den Höchstzeiten zu 80 Prozent der Stromerzeugung bei, aktuell sind es etwa 75 Prozent.