Energiewende historisch beispielloses Projekt – Lernfeld für noch Größeres

Stadermann: Wie kam es bei Ihnen zu einem Bewusstseinswandel von der normalen Mainstream-Ökonomie zu alternativen Überlegungen hin zur Energieeffizienz, hin zu Erneuerbare Energien? War das ein plötzlicher Mentalitätswandel nach Tschernobyl oder war es ein evolutionärer Bewusstseinswandel?

Hennicke: Es war ein langer Bewusstseinswandel mit vielen personellen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren. Der Abschied von der bleiernen Nachkriegszeit und der Drohkulisse des Kalten Krieges sowie der wichtige Anstoß zur Veränderung im Denken oder im Umgang mit Wissenschaft begannen zweifellos mit der Studentenbewegung der Sechziger Jahre. Die Attraktivität dieser Bewegung bestand für mich, wobei es zunächst um soziale oder politische und erst später auch um ökologische Fragen ging, in der Radikalität im Denken. Den Dingen wirklich auf den Grund gehen, gesellschaftliche Missstände anprangern, in Studium und Ausbildung die Lehrinhalte kritisch hinterfragen – das vermisse ich heute bei Fachdisziplinen wie der Ökonomie, aber auch bei vielen Aktivitäten sozialer und ökologischer Bewegungen. Wissenschaft und Praxis wirken gegenüber dominierender Macht und Privilegien zu handzahm, das hat gesellschaftliche Fortentwicklung noch nie beflügelt.

Übrigens als historische Anekdote: Carl-Christian von Weizsäcker war einer meiner Mentoren als junger Ökonom. Viele gucken mich dann verblüfft an und fragen: wie kann jemand, der für einen gestaltenden Staat eintritt, ausgerechnet einen glühenden Befürworter des „freien Marktes“, wie Carl-Christian von Weizsäcker als Mentor zitieren. Das ist ganz einfach: wir haben als Assistenten mit ihm zusammen an der Uni Heidelberg das – neben konventioneller Neoklassik – „integrierte Marxstudium“ in die Ökonomieausbildung eingeführt. Er war ein junger, sehr aufgeschlossener Ordinarius, als er an die Uni Heidelberg kam. Diese Art von Kreativität, von Aufbruch im Denken und Aufbrechen von Denkschranken war extrem wichtig für mich. Zunächst zwar konzentriert auf die soziale Frage. Aber ich habe dann in den Siebziger/Achtziger Jahren – auch im Umgang mit Kollegen aus dem Ökoinstitut – verstanden, dass die sozialen und ökologischen Fragen überhaupt nicht voneinander zu trennen sind. Und man kann, wenn man weit vorausschaut, behaupten, die ökologische Frage muss gelöst werden, damit die sozialen Fragen überhaupt noch lösbar bleiben und sich nicht irreversibel verschärfen. Man muss an beiden Fronten arbeiten, denn die Hauptbetroffenen von ökologischen Verwerfungen sind die sozial Schwachen, sind die Armen in der Welt, sind die Länder im Süden, aber auch die sogenannten „einkommensschwachen“ Gruppen in Deutschland und anderen Industrieländern – also geht es darum, wirklich eine sehr enge Verbindung zwischen der sozialen und der ökologischen Frage herzustellen.

Allerdings muss man sich persönlich als Wissenschaftler irgendwann entscheiden, wo man besser am Platz ist, und wo man vielleicht auch einen größeren Einfluss entwickeln kann. Mein Schwerpunktbereich war dann folgerichtig das Feld Energie geworden, wo ich den Eindruck hatte, beides – die soziale und die ökologische Komponente – im Blick zu haben. Stichworte sind zum Beispiel Energiearmut im nationalen Bereich und sichere Energieversorgung ohne internationale Ausbeutung anderer Länder. Da hat man es in der unmittelbaren Form mit beiden Komponenten zu tun.

Auch wenn man sich Statistiken anschaut über Sterblichkeit oder Krankheitshäufigkeit, dann sieht man einen ganz klaren Trend in Industrie und Schwellenländern. Das hängt mit Umweltverschmutzung durch fossile Energien, mit Lärm und mit vielen anderen Umweltproblemen zusammen. Und wenn es wirklich zum dramatischen Klimawandel kommt, ist ganz klar, dass – noch mehr als schon bisher – die Armen und die Schwächsten am meisten betroffen sein werden.

Das ist für mich auch eine Rechtfertigung, um sagen zu können: Es gibt viel bessere und kundigere Kollegen, die sich z.B. mit Lohn- und Arbeitsmarktpolitik und Makroökonomie im Detail beschäftigen und mit Verteilungsfragen. Ich konzentriere mich jetzt mal auf Felder, wie man – hoffentlich – die ökologische Frage noch in den Griff bekommt.

Oberzig: Ich möchte einen kurzen Exkurs in die Geschichte machen. Ich habe in Ihrem letzten Buch eine Bemerkung über die Göttinger 18 gelesen, dazu gehört die Atomtod-Bewegungen in den Fünfzigern. Sie hatten von der Studentenbewegung gesprochen. Meine Frage ist, gab es trotz Generationenschnitts eine Verbindung mit dem, was später im Ökoinstitut erarbeitet wurde?

Hennicke: Ich kenne keinen nachdenklichen und kritisch orientierten Kopf in meiner Generation, dessen Denken nicht auch durch den faschistischen Auslöser und den Ausgang des Zweiten Weltkrieges sowie durch die Restaurationsperiode unter Bedingungen des kalten Krieges beeinflusst worden ist. Damit hatte sich immer auch die Frage gestellt, was für einen geostrategischen Grund es für den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki gab. Welche Rolle haben geostrategische und militärische Doktrinen dabei gespielt und was bedeutete es, wenn trotzdem in der Nachkriegsgeschichte Schritt für Schritt andere Länder atomar aufgerüstet wurden? Dass diese Entwicklung in eine Weltvernichtung einmünden kann, das war vielen von uns klar. So z.B. während die Kubakrise. Ich weiß, wie bedrohlich auch ich sie atmosphärisch empfunden habe, weil man wirklich befürchtet musste, jetzt sitzt jemand am Drücker und setzt dieses verbrecherische Potenzial der Massenvernichtungswaffen ein.

Von daher gab es in der deutschen Nachkriegsgeschichte bei der Energiepolitik immer auch eine unterschwellige Anti-Atomwaffen-Bewegung, die befürchtet hat, dass die sogenannte zivile Nutzung der Kernenergie eigentlich nur ein Mittel ist, um an die Atombombe heranzukommen oder um durch eine Umdeutung Hiroshima und Nagasaki sozusagen im Bewusstsein der Gesellschaft wieder auszulöschen. Atoms For Peace4 ist eine Veranstaltung gewesen, die ganz klar gesteuert worden ist mit dem Ziel, dieses Verbrechen des Atombombenabwurfs in der kollektiven Erinnerung zu tilgen. Ich denke, dass bei vielen älteren Aktivisten, die in der Anti-Atomkraftwerk-Bewegung aktiv waren, auch die Frage der möglichen militärischen Nutzung mit ein Motivationsgrund war, gegen Atomkraftwerke zu kämpfen.

Dazu eine kurze Anekdote: In „Die Energiewende ist möglich“ heißt es in einer Passage, dass das RWE sämtliche Stationen des Kernbrennstoff-Zyklus beherrscht und es damit auch in Deutschland grundsätzlich möglich wäre, wenn es politisch gewollt würde, Atombomben zu bauen. Bei dieser Tatsachenfeststellung sind einige Entscheidungsträger hoch gegangen wie Raketen. Aber wir wussten natürlich, dass die militärische Option durchaus – nicht bei RWE in der Unternehmensplanung, aber in bestimmten Politikerkreisen – diskutiert wurde. Dies ist ja auch in Frankreich der Fall gewesen – bis zur bitteren Konsequenz der Force de Frappe mit einer unheilvollen Verquickung von militärischer und ziviler Nutzung. Das wäre auch in Deutschland durchaus denkbar gewesen, wenn nicht dieser verheerende Hintergrund der faschistischen Aggression und – Gott sei Dank – des verlorenen Krieges gewesen wäre. Also, von daher gab es in Deutschland keine unmittelbare Verkettung ziviler und militärischer Nutzung, aber im politischen Bewusstsein vieler Anti-AKW-Aktivisten hat es eine Rolle gespielt.

Oberzig: Worauf ich hinaus möchte: Obwohl es offenbar keine direkte personelle Kontinuität gab, war eine Art geistige Kontinuität, ein Bewusstsein über die Missbrauchsmöglichkeiten der Kernenergie vorhanden?