Energiewende historisch beispielloses Projekt – Lernfeld für noch Größeres

Oberzig: Ist eigentlich in dieser Beziehung die Wissenschaft, wie sie momentan arbeitet, gut aufgestellt?

Hennicke: Ich würde behaupten: jetzt beginnt die zweite Etappe des wissenschaftlichen Streitens für eine „Ökonomie des Vermeidens“ von unnötigem Ressourcenverbrauch und für eine Energiewende in der Form, wie die meisten Menschen sie auch verstehen: nicht nur als Stromwende, sondern als ökologische Modernisierung des Gebäudebestandes, als hocheffiziente Neugebäude und vor allem auch als nachhaltigere Form der Mobilität. Wenn man die Energiewende in dieser Breite denkt, ist sie ein historisch beispielloses Projekt: Wir reduzieren einen der wichtigsten Teilmärkte in einer hochmodernen Volkswirtschaft bis 2050 auf die Hälfte. Erstmalig in der Wirtschaftsgeschichte soll damit ein bedeutsamer globaler Markt auf nationaler Ebene effektiv, sozial- und wirtschaftsverträglich zurück geschrumpft werden. Das widerspricht natürlich auf dem ersten Blick diametral der gesamten Wachstumsphilosophie und auch den systemimmanenten kapitalistischen Mechanismen, d.h. dem Zwang und Drang (Binswanger) von verzinstem Finanzkapital, Wachstum zu erzeugen. Die Energiewende bedeutet daher in letzter Konsequenz auch mehr als ein energiebezogener Paradigmenwechsel. Es ist eine komplette Umorientierung in der Art und Weise, wie wir sowohl mit Natur und Rohstoffen als auch mit der Verantwortlichkeit gegenüber Ländern der Dritten Welt und späteren Generationen umgehen. Von daher steckt in der Energiewende immer auch eine Ressourcen- und eine Transformationswende. Die Energiewende ist sozusagen Lernfeld für noch Größeres, nämlich wie wir mit strategisch bedeutsamen Metallen, mit Biomasse und letztlich mit allen Rohstoffen aus der Natur haushälterischer umgehen.

Oberzig: Elmar Altvater sagte kürzlich bei einer Veranstaltung, das wird das Ende des fossilen Kapitalismus oder des Kapitalismus sein, wie wir ihn kennen.

Hennicke: Da hat er Recht. Diese Formel haben übrigens Claus Leggewie und Harald Welzer in ihrem Buch zum Klimawandel als erste benutzt, „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ . Am Anfang erschrickst du und denkst, was sagen die denn jetzt – diese Katastrophenprediger! Aber was in diesem Satz auch als wesentlicher Gedanke drinsteckt – Altvater konzentriert sich ja nur auf die heutigen Verwerfungen des Energie-Systems: Wir sollten versuchen, mehr und in positiven Zukunftsbildern vom Jahr 2050 zurück zu denken auf heute, auch wenn wir uns noch nicht so genau vorstellen können, wie völlig anders die Welt 2050 sein könnte. Meine Vision ist: sie kann durch eine konsequente Energiewende viel besser, viel risikoärmer, viel gerechter und viel solidarischer sein, obwohl wir heute davon noch meilenweit entfernt sind.

Stadermann: Was würden Sie sich denn unter dem Begriff einer Forschungswende vorstellen?

Hennicke: Der Begriff unterstellt ja als Analogie zu Energie, dass auch in materiell stofflicher Form eine Wende stattfindet, zum Beispiel in den Prioritäten der Forschungsbudgets von Staat und Unternehmen. Dem voraus muss jedoch eine Wende im Denken gehen, ein Dialog und notfalls auch eine scharfe Auseinandersetzung unter Forschern über die Rolle von Wissenschaft in der Weltgesellschaft, die in fundamentalen Krisen steckt. In dieser globalen Form der militärischen (z.B. Massenvernichtungswaffen) und nicht militärischen (z.B. ungebremster Klimawandel) potenziellen Selbstauslöschung der Menschheit ist die Krise neu und damit sollte auch die Rolle der Wissenschaft neu justiert werden. Wir müssen sehr viel präziser darüber nachdenken, wie die Wissenschaft zur Krisenentschärfung auf allen Feldern, nicht nur im Bereich der Energie und Ressourcen beitragen kann, auch, bei der Armutsbekämpfung, der Konfliktvermeidung, der Friedensforschung etc.. Wie viele Wissenschaftlicher fragen sich denn: Was trägt meine wissenschaftliche Kompetenz dazu bei, dass die Sustainable Development Goals 2030 erreicht werden? Jeder wache Forscher sieht doch um sich herum, wie die Probleme sozusagen aus dem Boden quellen. Ich bewundere die, die da noch in Ruhe Grundlagenforschung gut und gediegen machen können, statt zu fragen, wie kann ich denn mit meinem Wissen unmittelbar und schnell dazu beitragen, das die Probleme entschärft werden. Damit kein Missverständnis entsteht: Natürlich brauchen wir weiter Grundlagenforschung, aber meine Hoffnung ist, dass die Rolle, der Auftrag, das Selbstverständnis von Forschung stärker getragen werden von dem Gefühl der Verantwortlichkeit – einer Gesellschaft, die einem das Forschungsprivileg finanziert, wirklich konkret zu dienen. Also dieser Gedanke wäre eine Wende im Denken und ein starker Impuls für eine Forschungswende.

Stadermann: Eine solche Wende fordert ja auch der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger, wenn er sagt: „Wir fühlen uns von der Wissenschaft im Stich gelassen“, in dem Sinn, dass die Wissenschaft sich zu sehr auf sich selbst fokussiert und die Realität nicht wirklich zur Kenntnis nimmt.

Hennicke: Da hat Hubert Weiger in Hinblick auf viele Wissenschaftsbereiche Recht, man muss ja manchmal die Dinge auch ein bisschen plakativ ausdrücken. Zwar gibt es sicher Teile der Wissenschaft, die so nicht beurteilt werden müssen, aber wenn man sich den Mainstream anschaut, da wundere ich mich doch immer wieder über eine abgehobene technokratische Vision von gesellschaftlicher Veränderung. In den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern ist das Bild vorherrschend, wir Wissenschaftler sind diejenigen, die die Richtung der Entwicklung von Technologien vorgeben und entsprechende Infrastrukturen entwickeln. Modewort ist dabei „Innovation“: Die Hauptsache „neu“. Ob das „Neue“ mensch- und naturverträglich ist, entscheidet „der Markt“, sprich die kaufkräftige Nachfrage, nicht etwa eine Defizitanalyse unbefriedigter, aber gesellschaftlich notwendiger Bedürfnisse.

Und wenn die Wähler oder Konsumenten in ihrer Mehrheit „das Neue“ nicht gleich verstehen oder annehmen, dann sollen „die Politik“ und “die Wirtschaft“ Akzeptanz herstellen. Es sollte aber bei Produktionsprozessen und Produktentwicklungen oft umgekehrt sein, dass Wissenschaftler auf Bürger- und Beschäftigtenerkenntnisse achten – auch bei Prozessen, die von Bürgern oder Beschäftigten noch nicht in Gänze verstanden werden und die man als Wissenschaftler versuchen sollte, verständlich zu interpretieren. Zum Beispiel für Problemlösungen ein diskursives und transparentes Verfahren der betroffenen Stakeholder aufzusetzen und deren Impulse, die eine permanente Herausforderung für die Wissenschaft darstellen, für neue Erkenntnisse und für wirklich nachhaltige technische und soziale Innovationen in einer strukturierten Form aufzunehmen.

Folgt: Stadermann: Das geht schon in die Frage über: Wie stellen Sie sich eine Forschung für die Zivilgesellschaft, also im öffentlichen Interesse vor?