Energiewende historisch beispielloses Projekt – Lernfeld für noch Größeres

Oberzig: Worauf ich hinaus möchte: Obwohl es offenbar keine direkte personelle Kontinuität gab, war eine Art geistige Kontinuität, ein Bewusstsein über die Missbrauchsmöglichkeiten der Kernenergie vorhanden?

Stadermann: Wir haben damals darüber diskutiert, dass die erste Überlegung der Amerikaner darin bestand, die Atombombe auf Dresden abzuwerfen, das muss man sich mal vorstellen. Nur die Russen waren viel zu weit an Dresden dran, deshalb haben sie von dem Vorhaben Abstand genommen und haben dann die armen Japaner getroffen. Interessant ist ja aber, jetzt auch im Hinblick auf Fukushima, dass eben diese Atom For Peace-Doktrin von Eisenhower, ganz besonders in Japan vorangetrieben worden ist, damit die Leute dort Hiroshima und Nagasaki „vergessen“ und mit der Atomkraft, ein blühendes Wirtschaftssystem verbinden. Was ihnen ja auch bis vor kurzem gelungen ist, das muss man ja leider sagen.

Hennicke: Was hoch spannend in der aktuellen Debatte in Japan ist: Es gibt einen gewissermaßen subkutanen Diskussionsprozess, der aber bei der politischen Führung durchaus eine Rolle spielt, ob Japan nicht deswegen an der Atomenergie festhalten sollte, um die militärische Option offenzuhalten. Ich habe mit einem ehemaligen japanischen Botschafter darüber diskutiert, der auch die Meinung vertrat, dass Japan auf diese militärische Nuklearoption nicht verzichten sollte – wegen der vermuteten Bedrohung durch China. Also da gibt es leider auch in Japan schon wieder Menschen, die sagen: es hat keinen Sinn über Hiroshima und Nagasaki weiter nachzudenken und zu trauern, lass uns in die Offensive gegen. Wir brauchen eine nukleare Option.

Oberzig: Ich möchte auf den Aspekt Ihrer persönlichen Entwicklung zurückkommen. Sie sind relativ schnell und früh auf Energieeffizienz eingestiegen, als andere das noch gar nicht so sehr im Fokus hatten, wie kam das eigentlich? Im neuen Buch gibt es den Hinweis auf Amory Lovins.

Hennicke: Der Vorteil einer soliden ökonomischen Ausbildung, wie auch bei Physikern, ist eine gewisse systemische Sichtweise von Zusammenhängen und deswegen habe ich mich von Anfang an auch für Szenarien interessiert, für Simulationsmodelle ohne selber welche gemacht zu haben. Ich denke, man kann damit systemrelevante Fragen genauer oder quantifiziert diskutieren. Denn wenn man systematisch heran geht an das Thema Energie, dann erkennt man an der Entwicklung von Szenarien weltweit und auch national, was für eine ungeheure Rolle die Energieeffizienz spielen kann – zunächst einmal technisch. Aber man versteht auch besser die ungeheure Komplexität, die gut in das Grundverständnis reinpasst von jemandem, der mit sozialen Bewegungen, mit sozialen Bedingungen sich lange beschäftigt hat. Energieeffizienz ernst zu nehmen bedeutet ja einen grundlegenden Paradigmenwechsel, nämlich Energieversorgung zurückzunehmen in die Gesellschaft, d.h. auch mit der trügerischen „Versorgungsdenke“ zu brechen, mit der wir alle aufgewachsen sind. Sie gipfelt ja in Sprüchen, wie „der Strom kommt aus der Steckdose“. Damit hat man die Verantwortung für die Form und den Umfang der Bereitstellung von Energie sozusagen komplett auf Andere – die Energieversorger – delegiert, sehr zu deren Wohlgefallen. Die Energie-Effizienz zeigt aber den Weg zu den Verbindungen mit Zukunftsperspektiven, wie etwa Dezentralität bei Erneuerbarer Energieerzeugung z.B. durch Genossenschaften bis hin zu Prosumer-Aktivitäten, man erzeugt selber und beliefert auch andere im Plus-Energie-Haus.

Ich bin zwar kein Fantast, der jetzt an Autarkie in jedem Haushalt oder in allen Regionen denkt, aber der Gedanke, die Verantwortung für Energie wieder zurückzunehmen in die Gesellschaft, der beschäftigt mich schon sehr. Dann kommt man nämlich automatisch zu dem Punkt, wo man sich Energieflussdiagramme anschaut – also wieder unter dem systemischen Gesichtspunkt – und merkt: wir haben weltweit in allen Ländern gigantische Energie-Ineffizienz-Maschinerien geschaffen. Wir schieben 100 % Primärenergie rein und am Schluss kommt ein Drittel Nutzenergie raus – ein Irrsinnsvorgang aus technischer, aber auch aus ressourcen- und gesellschaftspolitischer Sicht. Wir müssen also primär überlegen, wie kriegen wir den Input halbiert, für den gleichen Nutzeffekt. Das heißt, wir müssen die riesigen Verluste beim nationalen Energiefluss vermeiden und weit mehr dezentrale Energie mit kurzen Verteilungswegen ins System integrieren. Das führt relativ schnell zu einer intensiven Befassung mit dem, was wir jetzt Effizienzrevolution nennen. Aber immer wieder mit der Betonung, dass es nicht nur ein technisches Problem ist. Wenn man komplexe Energiesysteme in die Gesellschaft zurück nimmt, muss man sich mit Lebensstilfragen, mit Konsumentscheidungen, mit Wohlfahrts- und Komforteffekten auseinandersetzen. Und das reicht dann bis hin zu sehr konkreten Fragen: Wie kann man Menschen dazu veranlassen, dass sie nicht den allergrößten Flachbildschirm kaufen, sondern lieber 10 cm weniger, aber dafür einen hocheffizienten? Oder die Debatte über energieeffiziente Haushaltsgeräte, die für jeden Haushalt technisch ja längst in Summe mit etwa einem Drittel des Energieverbrauchs lieferbar sind? Und was können wir mit einer simultanen Energie- und Materialflussoptimierung in Produktionsprozessen erreichen?

Die Begeisterung in der Schweiz für die 2.000-Watt-Gesellschaft finde ich zum Beispiel sehr interessant. Ich fände es attraktiv, darüber nachzudenken, wie sähe eine 2.000-Watt-Gesellschaft in Deutschland aus, weil das Konzept im Kern sagt: Priorität fürs Löcherstopfen (d.h. unnötige Energieverluste vermeiden) und Energieverbrauch durch Effizienz und Suffizienz reduzieren bei durchaus bleibender oder wachsender Lebensqualität. Dann aber schauen, wie wir ein derartig organisiertes Energieeffizienzsystem besser und kostengünstiger mit Erneuerbaren Energien betreiben können.

Oberzig: Ist eigentlich in dieser Beziehung die Wissenschaft, wie sie momentan arbeitet, gut aufgestellt?