5 Jahre Fukushima – 5 Jahre Atomwende

Tetsch: „Der größte jemals unternommene Versuch zur Auswirkung radioaktiver Strahlung auf Menschen“

Der Umweltjournalist Alexander Tetsch ließ seinen Bericht in der Frage gipfeln: „Ab welchem Punkt werden die Risiken einer Technologie gesellschaftlich, wirtschaftlich und ethisch untragbar?“ Und er ersetzte „einer Technologie“ schließlich durch „unserer Lebensweise“.  Tetsch ist 4.000 Kilometer durch Japan gereist, hat 17.000 Fotos geschossen und 87 Interviews mit Betroffenen, deren Leben durch die Atomkatastrophe von Fukushima dauerhaft verändert wurde, geführt.

Anhand von Auto-Luftfiltern aus Japan (Foto © Alexander Neureuter) veranschaulichte er die Kontaminierung: Wie in den Luftfiltern werde es auch in den Lungen der Menschen aussehen, so Tetsch. Premierminister Abe habe zwar verkündet, es sei alles unter Kontrolle, das sei aber verfrüht gewesen. Der Luftfilter eines Taxis aus Tokio beweist das Gegenteil – und sogar ein solcher aus Seattle hatte noch ein strahlendes Teilchen aus Fukushima. Das zeige, wie weit der Fallout über den Pazifik geweht worden sei. Er, Tetsch, habe aus Japan die Erkenntnis mitgebracht: „In Fukushima läuft seit März 2011 der größte jemals unternommene Versuch zur Auswirkung radioaktiver Strahlung auf Menschen.“

22 Mio. Kubikmeter verstrahlte Erde – 795 Mio. Liter hoch kontaminiertes Wasser

Der Buchautor (Fukushima 360°) hat recherchiert, dass in den (lecken) Tanks um Fukushima Daichi 795 Mio Liter hoch kontaminiertes Wasser – und darunter fließe ein unterirdischer Fluss, der täglich 300.000 Liter radioaktives Wasser in den Pazifik befördere, dort liege die Strahlung zwar (noch) unterhalb der Grenzwerte, doch die biologische Akkumulation sei noch unerforscht.

In Fukushima City wurden vor dem GAU Strahlungswerte von 0,04 Mikrosievert (µSv = 0,000 001 Sv = 10-6 Sv) gemessen, danach hat Tetsch 0,65 µSv gemessen, das 16fache. Aber die öffentlich aufgestellten Messgeräte zeigen viel weniger an, denn sie hätten (ungewollt strahlungsmindernde) Bleiakkumulatoren um die Radioaktivitätssensoren gruppiert. Andererseits werde die staatliche Dekontaminierung durch Wind, Wetter und Verwehungen konterkariert. Zigtausende von Plastiksäcken seien mit radioaktivem Boden gefüllt worden. Ins Meer versenken, verscharren, verbrennen – alles gehe nicht, erst in 30 Jahren Lagerung sinkt zum Beispiel die radioaktive Strahlung von Cäsium erst auf die Hälfte ab. Cs137 strahlt aber mindestens 300 Jahre bis es ganz abgeklungen ist. So ständen inzwischen 22 Mio. Kubikmeter Erde um Fukushima herum – das entspreche einem Würfel mit einer Kantenlänge von 280 m (der Kölner Dom würde mehrfach hineinpassen) – müsse so „verarbeitet“ werden. Die „Lösung“: Die Erde werde an Straßen-und Bahnböschungen verbaut.

Am 19.08.2013 sei es zu einer erneuten Kontaminierung nördlich des GAU-Reaktors gekommen – später habe sich herausgestellt: Verursacherin war die TEPCO, sie entfernte Dachträger und zersägte kontaminiertes Material – der dabei  entstehende Staub sei verweht worden. Dazu warten im Abklingbecken 550 Brennelemente auf Entsorgung. In der Zone (einmal „Obstkorb Japans“ genannt) werden heute 2,44 µSv gemessen – gar 21,06 µSv auf einem Parkplatz vor einer McDonald-Filiale.

Leben nach dem GAU

100.000 Menschen leben heute noch in Containern (Foto © Alexander Neureuter) – Tetsch hat sie besucht, befragt und fotografiert. 2020 sind in Tokio olympische Spiele, ein wunderschönes olympisches Dorf werde dafür gebaut – aber diese Menschen, so Tetsch,  „sollten nicht vergessen werden“. 368.000 erste Personendosimeter seien für Kinder verteilt worden, die Geräte waren aber passive Dosimeter, die über ein Jahr lang Strahlung sammeln und anschließend ausgewertet werden. Diese Geräte – so Tetsch – „dienen der Wissenschaft (wieviel kann ein kindlicher Organismus ertragen bis er krank wird?) und nicht dem Schutz der Kinder.“ Ein hilfloses Faltblatt gibt eher Gesundheitstipps als wirkliche Hilfe gegen das Strahlenrisiko. Kinder dürften nur noch 30 Minuten im Freien spielen – auf einem Sportplatz habe er 14,88 µSv gemessen. Dafür wurden „In-door-Spielplätze“ geschaffen: In Gebäuden gibt es sogar Sandkästen zum Spielen.

Erste gesundheitliche Folgen seien bereits festzustellen: beispielsweise erhöhte Schilddrüsenkrebsraten bei Kindern, selbst bereinigt bleiben sie überdurchschnittlich hoch: Früher habe es auf 1 Million Kinder fünf Fälle gegeben – heute: habe man unter 295.00 Untersuchten in der Präfektur Fukushima 79 Fälle festgestellt, das ist 53mal so viel – auch spätere Untersuchungen hätten das bestätigt. (Siehe: https://www.solarify.eu/2012/07/15/fukushima-schilddrusenveranderungen-bei-kindern-verharmlost/, https://www.solarify.eu/2013/03/16/zwei-jahre-fukushima-55-000-kinder-mit-schilddrusenveranderungen/ und https://www.solarify.eu/2013/09/04/151-erschreckende-zunahme-von-schilddrusenkrebs-bei-kindern-in-fukushima/ – jeweils zu ihrer Zeit aktuelle Meldungen und Mitteilungen).

Ab April 2017 gelte Rückkehrzwang in weniger belastete Zonen, dafür gebe nur einen einmaligen Zuschuss von 780 Euro – wer aber woanders hin umziehe, bekomme nichts. Dafür, dass Japan nicht völlig aus der Atomenergie aussteigt, nennt Tetsch Gründe:

  • das Export-Interesse von Mitsubishi und Toshiba: die AKW-Bauer hätten eine lange Liste mit Vorverträgen
  • der Reingewinn eines AKW betrage pro Tag eine Million Euro
  • und die japanische Regierung wolle eben doch irgendwann Atomwaffen, brauche daher das Plutonium.

Folgt: Rosenkranz: Singularität der Risiken und der Sicherung