Rede Angela Merkels vor Rat für Nachhaltige Entwicklung

Verantwortung Europas

„Wer sich vor Augen führt, welche Hilfe die Nachbarländer von Syrien leisten, der entwickelt auch einen anderen Blick für die Verantwortung Europas. Nebenbei gesagt: Wenn Sie sich einmal den Schengen-Raum anschauen, stellen Sie fest, dass er nicht nur bis zum Nordpol reicht, sondern dass er auch Syrien als Nachbarland hat, nämlich als Nachbarland von Zypern. Zypern gehört zum Schengen-Raum. Wir sind Nachbarn und nur durch einen kurzen Seeweg von Syrien getrennt. Wenn ich daran denke, dass der Libanon mit fünf Millionen Einwohnern 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, dass aber bis heute in der Europäischen Union mit ihren 500 Millionen Einwohnern wahrscheinlich nicht einmal eine Million Syrer aufgenommen wurde, dann muss ich sagen: Wir sehen, was im Libanon, in Jordanien und auch in der Türkei mit drei Millionen Flüchtlingen geleistet wird.

Natürlich verursacht die Aufnahme von Flüchtlingen Aufwand und kostet Geld. Es gibt aber auch gute Gründe, den Menschen eine Perspektive zu geben – auch mit Blick auf unsere eigene demografische Zukunft. Wir wissen: Selbst wenn jemand nach dem Bürgerkrieg wieder in seine Heimat zurückkehrt, nützt ihm eine gute Aus-, Fort- und Weiterbildung, weil er sein Wissen auch in seinem Land anwenden kann. Das ist also im wahrsten Sinne des Wortes auch Entwicklungshilfe – Hilfe zur eigenen Entwicklung. Im Übrigen weitet es auch unseren Blick auf die Welt, wenn man persönliche Kontakte hat und persönliche Schicksale kennenlernt.

Wir haben in der letzten Woche ein Integrationsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem der Bund die Verantwortung für Fordern und Fördern von Integrationsanstrengungen zum ersten Mal explizit benennt und den Zugang zu Sprach- und Integrationskursangeboten sowie zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verbessert. Damit zeigen wir, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Diejenigen, die wir früher als Gastarbeiter bezeichnet haben, haben sich zumeist dann doch als Menschen erwiesen, die viel länger als gedacht bei uns geblieben sind. Wir lernen daraus, dass sofortige Integration besser ist. Daher werden wir auch 100.000 zusätzliche Arbeitsgelegenheiten mit Bundesmitteln für leistungsberechtigte Asylbewerber schaffen. Wir glauben, dass es ein Gewinn in jeder Hinsicht ist, wenn Integration gelingt.

Wir sind eine der erfolgreichsten Exportnationen weltweit. Unsere Unternehmen überzeugen auf den Weltmärkten mit forschungs- und entwicklungsintensiven Hightech-Angeboten. Diese Innovationsstärke ist natürlich auch eine unserer Grundlagen für Wohlstand und soziale Sicherheit. Deshalb ist die Förderung von Forschung und Entwicklung aus unserer Sicht ein wichtiger politischer Beitrag der Bundesregierung. Die Hightech-Strategie, die sich auf globale Kernfragen konzentriert, ist aufs Engste verbunden mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung. Diese erfordert letztlich einen Wandel in sämtlichen Lebens- und Wirtschaftsbereichen. Denn wir brauchen Innovationen, die wirtschaftlichen, sozialen und Umweltbelangen gleichermaßen dienen. Das setzt Offenheit gegenüber neuen Technologien und Offenheit gegenüber nachhaltig erzeugten Gütern voraus. Wirtschaftliche Veränderungen im Sinne von mehr Nachhaltigkeit sind nur mit einem gesellschaftlichen Wandel zu erreichen – das heißt, mit einer breiten Kultur der Nachhaltigkeit.

Wenn ich auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre blicke, dann bin ich optimistisch. Denn Nachhaltigkeit ist als ein Entscheidungskriterium in Alltagsfragen – wenn auch sehr langsam und noch nicht bei allen – viel selbstverständlicher geworden. Viel mehr Menschen wollen heute wissen, unter welchen Arbeitsbedingungen ihre neuen Jeans genäht wurden, sie achten darauf, mit welchem Siegel Nahrungsmittel versehen sind, und sie fragen nach nachhaltigen Anlagemöglichkeiten für Erspartes.

Wir als Bundesregierung unterstützen das Umdenken und diesen Wandel auch ganz praktisch. Der „Qualitätscheck Nachhaltigkeitsstandards“ ist ein Beispiel dafür. Er verschafft Verbrauchern einen besseren Durchblick im Dschungel der Gütesiegel im Handel. Mit dem „Forum Nachhaltiger Kakao“ setzen sich Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam für bessere Lebensumstände der Bauern und den Schutz natürlicher Ressourcen in den Anbauländern ein. Es gibt viele, viele Möglichkeiten, sich konkret für nachhaltige Entwicklung zu engagieren.

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