WBGU: Unsere gemeinsame digitale Zukunft

Neue normative Fragen – Die Zukunft des Homo sapiens

Vom Menschen geschaffene digitale Technologien beeinflussen und verändern nicht nur den Planeten irreversibel, sondern auch den Menschen und die vorherrschenden Menschenbilder. Das Verhältnis von Mensch, Maschine und Umwelt ist dabei dynamisch, denn alle drei Komponenten sind durch Technik als Menschenwerk veränderlich. So entstehen fundamentale ethische Fragen, die gesamtgesellschaftlich erörtert werden müssen.

Der WBGU empfiehlt:

  • Forschungsethik, Datenschutz und Abschaltmöglichkeit bei Gehirn-Computer-Interfaces und Gehirn gesteuerten Neuroprothesen verankern: Hier besteht dringender Handlungsbedarf, da unabhängig vom Entwicklungsstand bereits heute digital ansteuerbare Prothesen und Implantate zu kurativen Zwecken eingesetzt werden. Entgegen der heute zumeist üblichen Praxis sollten Verschlüsselung oder Abschaltfunktionen zwingend vorgesehen werden.
  • Zulassungsstandards und „Frühwarnsysteme“ für Produkte und Dienstleistungen im Bereich der Mensch-Maschine- Interaktion: Es sollte eine Kennzeichnungspflicht für Kommunikation mit einem maschinellen „Gegenüber“ etabliert werden. Aufgrund der potenziell weitreichenden Folgen für die psychische Integrität sollten zudem generell für sozio-technische Innovationen, d. h. Produkte und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Mensch-Maschine-Interaktion, entsprechende Zulassungsstandards festgelegt werden. Weiterhin sind eine neue, stärker antizipierende Technikfolgenabschätzung sowie Frühwarnsysteme im Hinblick besonders verletzliche Zielgruppen zu entwickeln.
  • Verständnis zum Verhältnis „Mensch – Maschine – Umwelt“ kontinuierlich anpassen: Als Voraussetzung für Transparenz des technischen Entwicklungsstands und seiner Potenziale wie Risiken ist ein kontinuierliches Monitoring der technischen Entwicklungen, insbesondere zu Mensch-Maschine-Interaktionen und Schnittstellen nötig. Zudem ist zur kritischen und verantwortungsbewussten Antizipation künftiger Potenziale und Risiken technologischer Entwicklungen im Vergleich zu einem einseitig technologieorientierten ein breiteres Zukunftsverständnis nötig.
  • Flankierend zur auszubauenden Bildung für digitale Mündigkeit sollten auch in der Wissenschaft selbst die Grundlagen im Sinne von Zukunftsforschung, Prognose und Technikwandel weiterentwickelt werden.
  • Effektive und inklusive Diskursarenen schaffen: Zur Diskussion digitalethischer Themen im Kontext eines breiten Nachhaltigkeitsverständnisses sollten „Diskursarenen“ aufgebaut werden. Diese sollten Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und potenzielle Nutzer*innen mit einbeziehen.

Tabelle 1 Weiterentwicklung des deutschen Forschungssystems zur Darstellung der Herausforderungen der digitalen Transformation im Anthropozän.

Forschungsempfehlungen

Das deutsche Wissenschaftssystem sollte sowohl strukturell als auch programmatisch weiterentwickelt werden, um das für digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaften benötigte Wissen zu erarbeiten, bereitzustellen und die Rolle der Wissenschaft als Diskurs- und Reflexionsraum zu stärken. Wichtig sind dafür sowohl eine „Transformationsforschung“, welche versucht, die Bedeutung der Digitalisierung für fundamentale gesellschaftliche Veränderungsprozesse besser zu verstehen, als auch eine „transformative Forschung“, die mit ihren Forschungsergebnissen Transformationsprozesse zu einer nachhaltigen Entwicklung anstößt und mit katalysiert (WBGU, 2011: 23f.). Der Beitrag der Wissenschaft liegt sowohl darin, entsprechende Diskurse anzuregen und diese fachlich zu fundieren als auch darin, neue Technologien für eine digitalisierte Nachhaltigkeit zu erarbeiten und sie für die Anwendung vorzubereiten. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Impulse, die der WBGU zur Weiterentwicklung grundlagenorientierter und angewandter Forschung, bestehender Forschungsprogramme wie auch für eine nachhaltige Digitalisierung in der Wirtschaft vorschlägt. Diese werden im Folgenden näher erläutert.

Impulse zur Weiterentwicklung grundlagenorientierter Forschung

Da es sich sowohl bei Digitalisierung als auch bei Nachhaltigkeit um Querschnittsthemen handelt, sollten beide Themen von den zentralen Akteuren im Wissenschaftssystem auf die Agenda gesetzt und weiterverbreitet werden (Impulse für eine grundlagenorientierte Transformationsforschung für digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaften). Damit zielt der WBGU auf ein wirkmächtiges inter- und transdisziplinäres Mainstreaming dieser Themen in allen relevanten Bereichen der Wissenschaft selbst sowie im Austausch mit der Wirtschaft und Gesellschaft. Ziel ist dabei, sowohl ein breites Nachhaltigkeitsverständnis im Sinne der SDGs als auch eine nachhaltige Gestaltung von mit Digitalisierung verknüpfter Forschung zu verankern und sukzessive auszubauen.

  • Forschungsinstitute zu den Grundfragen der digitalisierten Nachhaltigkeit gründen: Der WBGU unterstützt die Initiative für ein neues Max-Planck-Institut zum Thema „Geo-Anthropologie“ (Rosol et al., 2018). Darüber hinaus regt der WBGU wegen der Komplexität der Grundfragen zur digitalisierten Nachhaltigkeit die Gründung weiterer Forschungsinstitute an, beispielsweise in der Leibniz-Gemeinschaft, Helmholtz- Gemeinschaft oder Fraunhofer-Gesellschaft oder als Bundes- oder Landesinstitute, um frei von wirtschaftlichen und politischen Zwängen an zentralen Fragen einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft entlang der verschiedenen Facetten forschen zu können.
  • Ständige DFG-Senatskommission für Nachhaltigkeit in der Digitalisierungsforschung einrichten: Der WBGU empfiehlt der DFG die Einrichtung einer ständigen Senatskommission „Nachhaltigkeit in der Digitalisierungsforschung“. Die Senatskommission soll auf digitale Entwicklungen hinweisen, die wissenschaftliche, ethische, rechtliche und soziale Fragen aufwerfen und im Konflikt mit der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen stehen. Sie soll außerdem auf Lücken in den forschungspolitischen und öffentlichen Diskursen hinweisen.
  • Leitlinien zu Nachhaltigkeit und Digitalisierung in Universitäten und Hochschulen formulieren und weiterentwickeln: Universitäten und Hochschulen sollten für ihre eigene Praxis Leitlinien für einen nachhaltigen Umgang mit digitalen Methoden und Werkzeugen im Universitäts- und Hochschulbetrieb erarbeiten bzw. ergänzen und umsetzen. Dazu sollte der Austausch mit Fakultäten, die zum Thema Digitalisierung forschen, gesucht werden. Das BMBF-Projekt „Nachhaltigkeit an Hochschulen“ (HOCHN) sollte um das Thema Digitalisierung ergänzt werden.

Forschungsprogramme zu Nachhaltigkeit und Digitalisierung wechselseitig verschränken und transdisziplinär weiterentwickeln

Der WBGU plädiert für eine wechselseitige Neuausrichtung der derzeitigen Forschungsschwerpunkte: Zum einen sollte die Digitalisierungsforschung Nachhaltigkeitsaspekte konsequent mitdenken, zum anderen sollte die Nachhaltigkeitsforschung in Bezug auf Digitalisierung weiterentwickelt und durch Einbezug von Reallaboren und Experimentierräumen auch transdisziplinär ausgerichtet werden. Damit können bestehende Wissenslücken gefüllt und mehr Erkenntnisse zu Potenzialen und Risiken der Digitalisierung für die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur gewonnen werden.

  • Horizon Europe – digitalisierte Nachhaltigkeit in Europa verankern: Angesichts der hohen gesellschaftlichen Relevanz sollte das Paradigma von „Responsible Research and Innovation“ für Forschung zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit als Standard implementiert werden. Weiterhin empfiehlt der WBGU, Forschung zu fundamentalen globalen Herausforderungen (Grand Challenges) strukturell in das kommende Forschungsrahmenprogramm aufzunehmen und dieses stärker auf Themen nachhaltiger Entwicklung der Digitalisierung und digitalisierter Nachhaltigkeit zu fokussieren. Der WBGU schlägt zusätzlich am geplanten Europäischen Innovationsund Technologieinstitut den Aufbau einer „Digital Sustainability Knowledge and Innovation Community“ (KIC) als kooperative Wissens- und Innovationsgemeinschaft mit der Industrie vor.
  • Future Earth – Nachhaltigkeitsforschung in Richtung Digitalisierung erweitern: Bei Future Earth sollten Digitalisierungsfragen als wichtiger Baustein integriert, ein globales Projekt zu „eSustainability“ begonnen und ein Knowledge-Action Network „Digitalization“ geschaffen werden.
  • Hightech-Strategie 2025 – Digitalisierung und Nachhaltigkeit stärker zusammendenken: Nachhaltigkeit sollte als Querschnittthema in der Hightech-Strategie verankert und konsequent mit Digitalisierung zusammengedacht werden. Als neues globales Entwicklungsparadigma sollten der Wohlfahrtsbegriff und die SDGs im Vordergrund der Hightech-Strategie stehen und der Fokus nicht vorrangig auf dem Wachstumsbegriff und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit liegen. Soziale, ökologische und kulturelle Dimensionen von Innovationen sollen als Strategieelemente zum Erreichen von Wohlfahrt weiter gestärkt werden. Nachhaltige Digitalisierung, im Sinne ihrer sicheren, ressourcenschonenden und energieeffizienten Gestaltung, soll als Bedingung für jedes digital gestützte Umsetzungsprojekt manifestiert werden. Digitalisierung für Nachhaltigkeit, im Sinne der Entwicklung von digital gestützten, an den SDGs orientierten Lösungen, sollte als konkrete Mission der Hightech-Strategie ergänzt werden.
  • FONA4 mit Digitalisierung verknüpfen: Das vierte Rahmenprogramm „Forschung für nachhaltige Entwicklung“ des BMBF (FONA4) sollte genutzt werden, um das Thema Digitalisierung in die Programmatik der Nachhaltigkeitsforschung zu stärken und weiterzuentwickeln. Dazu sollte (1) der Zusammenhang zwischen Digitalisierung und der Agenda 2030 zum Forschungsthema gemacht werden, (2) die Digitalisierung zur effektiven Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele berücksichtigt und verstärkt Wertediskussionen geführt werden, (3) die Thematik einbezogen werden, dass durch Digitalisierung fundamentale gesellschaftliche Änderungen angestoßen werden, so dass die Transformation zur Nachhaltigkeit neu durchdacht werden muss.
  • Energieforschungsprogramm der Bundesregierung breiter denken: Im Rahmen von F&E-Projekten für Energietechnologien und -systeme sollten nicht nur Marktpotenziale, sondern auch gesellschaftliche und umweltbezogene Nachhaltigkeitswirkungen mitgedacht werden. Gesellschaftliche und strukturelle Voraussetzungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zur Gestaltung nachhaltiger Energiesysteme sollten in der Forschungsförderung sowohl bei der Entwicklung neuer Energietechnologien als auch bei der Untersuchung der notwendigen Rahmenbedingungen stärker berücksichtigt werden.

Impulse für eine nachhaltige Digitalisierung in der industriellen Forschung

Die jährlichen F&E-Ausgaben in Deutschland stammen zu zwei Dritteln aus der Privatwirtschaft. Sie konzentrieren sich vor allem auf Branchen der hochwertigen Technologien (BMBF, 2018). Unternehmen sind daher wichtige Akteure, um auf eine nachhaltige Digitalisierung hinzuwirken.

  • In unternehmensinterne Forschung Ethik- und Nachhaltigkeitsaspekte integrieren: Für eine verantwortungsvolle Innovationsgestaltung empfiehlt der WBGU in der privatwirtschaftlichen Hightech-Entwicklung – im Sinne von Responsible Research and Innovation (RRI) – Ethik und Nachhaltigkeitsdimensionen systematisch zu berücksichtigen. Dazu sollten Unternehmen zum einen Leitlinien erarbeiten, die Ethik und Nachhaltigkeitsaspekte konsequent in die unternehmensinterne Forschung integrieren. Zum anderen sollten sie über entsprechende Aus- und Weiterbildungsangebote Entwickler*innen für eine kritische Auseinandersetzung mit bewussten (z. B. privacy by design) und unbewussten (z. B. Gender- Stereotypen) Werteinschreibungen in Technologien befähigen. Flankierend ist Forschung zur Verknüpfung von Design- und Professionsethos (wie beispielsweise die Initiative der IEEE zum „Ethically Aligned Design“) zu unterstützen. Die Forschungsförderung sollte Unternehmen entsprechende Anreize bieten.
  • Nachhaltigkeitsorientierte Zielindikatorik: Mit dem Instrumentarium, das die Digitalisierung bietet, sind in Unternehmen umfangreiche Beobachtungs- und Analyseaufgaben realisierbar. Um Nachhaltigkeitsvorgaben effizienter in Produktionsprozesse integrieren zu können, sollten Unternehmen eine nachhaltigkeitsorientierte Zielindikatorik entwickeln. Dazu könnten Unternehmen gezielt Daten zu Ressourcenflüssen und Energieverbrauch nutzen. Zudem sollten sie die Entwicklung von Monitoring-, Warn- und Prognosesystemen zu Einhaltung bestehender Grenzwerte vorantreiben.

Inhaltliche Forschungsempfehlungen für einen nachhaltig gestalteten digitalen Wandel

Gemessen an der Geschwindigkeit und Breite der digitalen Entwicklung existiert noch zu wenig belastbares Wissen über die Wirkung digitaler Technologien auf das Erdsystem, die Gesellschaften und den Menschen. So sind gesellschaftspolitische Diskurse über die Auswirkungen der Digitalisierung – beispielsweise in Bezug auf die Arbeit der Zukunft oder den Energie- und Ressourcenverbrauch – durch widersprüchliche Einschätzungen und hohe Unsicherheit gekennzeichnet. Gleichermaßen sind auch die Potenziale der Digitalisierung für die Realisierung der SDGs und die Frage, wie durch digital gestützte Bildungsmaßnahmen Wissen und Handeln für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit gefördert werden kann, erst in Ansätzen erforscht. Der WBGU schlägt die folgenden übergeordneten Forschungslinien vor, um mehr Wissen für einen digitalen nachhaltigen Wandel zu schaffen:

  • Forschung zur Digitalisierung für Nachhaltigkeit (Erste Dynamik): Wie können digitale Technologien, digitalisierte Infrastrukturen und digitalisierte Systeme und Endgeräte nachhaltig gestaltet werden, insbesondere mit Blick auf ihren Energie- und Ressourcenverbrauch sowie die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft? Wie kann die Digitalisierung als Instrument zur Umsetzung der SDGs und zur Dekarbonisierung des heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems eingesetzt werden?
  • Forschung für nachhaltige digitalisierte Gesellschaften (Zweite Dynamik): Wie können handlungsfähige Gesellschaften erhalten werden, die in der Lage sind, die systemverändernde Wirkmacht sowie die damit verbundenen Unsicherheiten der Digitalisierung einzuordnen und proaktiv nachhaltig zu gestalten sowie den nicht intendierten Folgen erfolgreich zu begegnen? Wichtige Forschungsaufgaben sind die Untersuchung von Systemrisiken und -potenzialen, die Entwicklung neuer Teilhabeformen im Kontext der Arbeit der Zukunft, die Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktionen und die Befähigung des Individuums in digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaften. Die Forschungsmittel zu den Auswirkungen KI auf die digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft sollten deutlich erhöht werden.
  • Forschung zur Zukunft des Homo sapiens (Dritte Dynamik): Durch den digitalen Wandel wird das Menschsein selbst zum Thema nachhaltiger Entwicklung. Inwieweit sind alte und neue Menschenbilder angesichts einer möglichen Verschränkung von Mensch und Technik sowie der zunehmenden Kooperation von Mensch und Maschine zu hinterfragen? Wie kann der Erhalt menschlicher Würde sichergestellt werden?

Eine zeitnahe Umsetzung der Handlungs- und Forschungsempfehlungen wird es erlauben, die Potenziale des digitalen Wandels für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit zu nutzen und seine Risiken einzuhegen. Dieses WBGU-Gutachten versteht sich dahingehend als Anstoß für lang anstehende Diskussionen und Initiativen auf allen Ebenen und mit allen Akteursgruppen.

Folgt: Literatur