WBGU: Unsere gemeinsame digitale Zukunft

Zukunftsbildung und digitale Mündigkeit vorantreiben (S. 20) – Der WBGU sieht hier folgende zentrale Bausteine, die – in ihrer Gesamtheit und wenn sie klug verbunden werden – die Architektur von handlungsfähigen Verantwortungsgesellschaften ergeben. Zu all diesen Grundlagen einer handlungsfähigen Verantwortungsgesellschaft schlägt der WBGU konkrete Reformpakete vor:

  • Menschen müssen befähigt werden, die anstehenden Umbrüche zu verstehen und mitzugestalten. Umfassende Bildung für nachhaltige Entwicklung im Digitalen Zeitalter ist der Schlüssel hierzu.
  • Wissenschaft sollte Zukunftswissen zur Gestaltung digitalisierter Nachhaltigkeit und nachhaltiger Digitalisierung erarbeiten. So wie vor vier Dekaden die Herkulesaufgabe bewerkstelligt wurde, Klima- und Erdsystemforschung mit sozialwissenschaftlichen sowie ökonomischen Disziplinen zu den heute etablierten Nachhaltigkeitswissenschaften zusammenzuführen, gilt es nun, diese rasch und eng mit der Digitalisierungsforschung zu verzahnen.
  • Staaten müssen selbst fähig sein zu gestalten: Staaten und öffentliche Institutionen müssen in ihre eigenen Fähigkeiten investieren, um digitale Kompetenzen für den Übergang zur Nachhaltigkeitsgesellschaft auf- bzw. auszubauen.
  • Die Schaffung von Experimentierräumen und Diskursarenen in Deutschland und Europa würde es ermöglichen, Innovationen vorzubereiten und zu beschleunigen, Zukunft vorzudenken und Beispiele für Zukunftsgestaltung zu entwickeln.
  • Ökonomische und politische Machtverschiebungen regulieren (S. 22) – Die neuen Machtkonstellationen müssen eingehegt werden, um demokratische Teilhabe zu sichern. Wichtige Beispiele angesichts der hohen globalen Mobilität der Digitalwirtschaft sind die internationale Harmonisierung des Wettbewerbsrechts und der Unternehmensbesteuerung sowie grenzüberschreitend klar regulierte, diskriminierungsfreie und im Sinne der Interoperabilität standardisierte Austauschprozesse in virtuellen Räumen.
  • Die digitalen Veränderungen haben prinzipiell weltumspannende Wirkung, so dass globale, regelund fairnessbasierte Ordnungsmodelle nötig sind, die eine Verbindung von digitalen und Nachhaltigkeitstransformationen, wie sie in der Charta des WBGU vorgeschlagen werden, ermöglichen. Nur wenn die Europäische Union einen gemeinsamen Weg in diese Richtung entwickelt, können europäische Gesellschaften Einfluss auf die globale Neuordnung der Zukunft nehmen.
  • Digitalisierung wird die Chancen der Gesellschaften in Entwicklungs- und Schwellenländern fundamental verändern, zum Guten wie zum Schlechten. Die internationale Kooperation für nachhaltige Entwicklung und die Zusammenarbeit Deutschlands und der EU mit den Vereinten Nationen und anderen multilateralen Akteuren muss daher in diese Richtung dringend ausgebaut werden.
  1. Technologische Game Changer können Nachhaltigkeitstransformationen beschleunigen: Die Digitalisierung bietet einen enormen Instrumenten- und Methodenkasten, der für die Nachhaltigkeitsziele effektiv und effizient zum Einsatz gebracht werden muss. Beispiele für technologiegetriebene Game Changer, die die Europäische Union rasch voranbringen sollte, um in Kooperation und Wettbewerb mit anderen Staaten und den Vereinten Nationen Veränderungsprozesse in den europäischen Gesellschaften und in der Weltwirtschaft auszulösen, sind:
  • Die erweiterten Möglichkeiten einer digitalisierten Erdfern- und -nahbeobachtung und die dafür benötigte Sensorik, Geräte und Infrastrukturen sollten weltweit ausgebaut und für ein umfassendes und echtzeitnahes Monitoring der natürlichen Erdsysteme, ihres Zustände und ihrer Entwicklung ertüchtigt werden. Daraus resultierende internationale digitale Gemeingüter sollen als Ausgangspunkt für die Etablierung und Realisierung von Diensten und Anwendungen für ein Welt(umwelt) bewusstsein genutzt werden.
  • Darauf aufbauend sollten die Nationalstaaten im Kontext der UN ein weltweit abgestimmtes und interoperables System einer digitalen SDG-Indikatorik aufzubauen, um so die Aktualität, Transparenz, Vergleichbarkeit und Überprüfbarkeit digitalisierter nationaler und internationaler SDG-Reports zu verbessern.
  • Digitale Gemeingüter etablieren und absichern (S. 22)
    Parallel dazu sollten die für die SDG-Indikatorik und die Erdbeobachtung erfassten nachhaltigkeits- und umweltorientierten Daten als digitale Gemeingüter zugänglich gemacht werden.
  • Öffentlich-rechtliche IKT bereitstellen (S. 22)–  Nicht zuletzt sollten IKT-Infrastrukturen als Teil der öffentlich-rechtlichen Daseinsfürsorge diskriminierungsfrei bereitgestellt werden und so Teilhabe und die Herausbildung von „Qualitätsmedien“ auch im digitalen Raum begünstigt werden.
  • Unter Nutzung digitaler Technologien sollten weltweit Prozesse und Infrastrukturen etabliert werden, die eine Erfassung von Emissions- und Ressourcenfußabdrücken in traditionellen Wirtschaftszweigen wie auch der Digitalwirtschaft über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg ermöglichen.
  • Die vielfältigen Potenziale von KI sollten für Nachhaltigkeitsfragen zum Einsatz kommen. Es geht beispielsweise darum, Stoffkreisläufe, Produktionsabläufe, Lieferketten, Nutzungskontexte und Konsummuster besser zu verstehen, wesentliche Trigger und Muster zu bestimmen sowie Optimierungspotenziale zu identifizieren und umzusetzen.
  • Die Nutzung der Digitalisierung zur Ermittlung ökologischer Kenngrößen und Zusammenhänge (z. B. SDG-Erreichung, Footprints, Stoffkreisläufe) schafft die Informationsbasis für eine effiziente Regulierung des Verbrauchs von Umweltressourcen. Insbesondere für das zentrale Ziel der Dekarbonisierung kann Digitalisierung den Unterschied machen, da sie neben ihrer zentralen Rolle in der Realisierung der Energieversorgung mit erneuerbaren Energien zudem dezidierte erzeugungs- und verbrauchsorientierte Regulierungen ermöglicht. Diese können im Zusammenspiel mit Wirtschaftspolitiken zur Dekarbonisierung Wirkung entfalten.
  • Fragilität und Autonomie technischer Systeme beachten ( S. 21) – Keine dieser an die Digitalisierung gebundenen Hebel werden jedoch wirkmächtig, wenn nicht die Resilienz, Cybersicherheit und Vertrauenswürdigkeit digitalisierter Infrastrukturen, ihre Langlebigkeit und Robustheit sowie auch eine dem Menschen vorbehaltene Entscheidungshoheit bei gesellschaftsrelevanten Automatismen mit KI umfassend gewährleistet werden.
  1. Nachhaltigkeit und Resilienz der Wirtschaft stärken: Digitalisierungsprozesse eröffnen nicht nur Chancen eine grüne Ökonomie voranzubringen, sondern auch die Diversität und Resilienz von Wirtschaftsstrukturen zu stärken, indem die Privatwirtschaft durch weitere Wirtschaftsformen ergänzt wird. Digitalisierung wird auch von genossenschaftlichen, öffentlichen oder gemeinwohlorientierten Unternehmen genutzt, um neue Geschäftsmodelle hervorzubringen. Diese entstehende Diversität knüpft erneut an die alten Stärken der europäischen Nachkriegsökonomien an: eine starke Privatwirtschaft, die Vielfalt von Unternehmensformen sowie in Institutionen und Normensysteme eingebettete Märkte. Um die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen ist es wichtig, neue Gleichgewichte zwischen unternehmerischem Wettbewerb, staatlicher Rahmensetzung, gesellschaftlicher Verantwortung und Gemeinwohlorientierung zu finden. Die durch das Pariser Klimaübereinkommen, die Agenda 2030 sowie die vom WBGU skizzierte Charta für die digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft gesetzten Leitplanken und Werte könnten so zur Richtschnur der Erneuerung Europas werden.

Digitalisierung am Gemeinwohl orientieren (S. 18) – Immanuel Kant hatte die Aufklärung im Kern als „Veränderung der Denkungsart der Menschen“ analysiert. Auf einer neuen Zivilisationsstufe im Digitalen Zeitalter stehen wir im Ringen um nachhaltige, global wie virtuell vernetzte, digitalisierte Gesellschaften und um Suchprozesse in Richtung eines neuen Humanismus vor einer ähnlichen Herausforderung: der Weiterentwicklung unserer Zivilisation, auf einem endlichen Planeten, im digitalen Anthropozän.

Folgt: Ein Überblick über das Gutachten