Für Nachhaltigkeit der Digitalisierung Rahmenbedingungen und Grenzen setzen (S. 18)
Von Karl Polanyi, Émile Durkheim und Max Weber kann man zudem lernen, dass Normen und Werte letztlich nur in Gesellschaften verankert und vor den Interessen der mächtigsten Akteure geschützt werden können, wenn den Veränderungen angemessene Institutionen geschaffen werden, die individuelles und kollektives Handeln in gesellschaftlich verabredete Bahnen lenken. Vor diesem Hintergrund diskutiert der WBGU Digitalisierung nicht nur als Prozess technologischen Wandels, sondern insbesondere aus normativer Perspektive und als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe.
Systemrisiken im Digitalen Zeitalter vermeiden
Um die Potenziale der Digitalisierung heben zu können, muss man sich der möglichen Systemrisiken im Digitalen Zeitalter bewusst sein. Digitale Systemrisiken sind denkbare großskalige Veränderungen in unseren Gesellschaften, die jeweils für sich genommen bereits Destabilisierungen unserer Gesellschaften auslösen könnten. Domino- und kumulative Verstärkereffekte würden sich entsprechend breitenwirksam multiplizieren.
Arbeit der Zukunft gestalten und Abbau von Ungleichheit fördern (S. 20)
Manche dieser Gefährdungen sind unumstritten (z. B. Disruptionen auf den Arbeitsmärkten), die Größenordnung der Veränderungen ist jedoch offen. Die Eintrittswahrscheinlichkeiten anderer Systemrisiken sind signifikant (z. B. Überschreitung planetarischer Leitplanken, digitaler Autoritarismus, weiterer Machtzuwachs großer Digitalunternehmen), während andere Eintrittswahrscheinlichkeiten aus heutiger Sicht eher niedrig sind (z. B. Akzeptanz von Human Enhancement zur Schaffung eines optimierten Homo sapiens). Doch auch letztere Systemrisiken sind nicht zu vernachlässigen, denn würde der Schadensfall eintreten, hätten sie umfassende Auswirkungen auf die Zukunft der Zivilisation. Der WBGU identifiziert Systemrisiken im Digitalen Zeitalter wie die folgenden:
- Überschreitung planetarischer Leitplanken durch digital getriebene, ressourcen- und emissionsintensive Wachstumsmuster.
- Entmachtung des Individuums, Gefährdung der Privatheit und Unterminierung digitalisierter Öffentlichkeiten durch digital ermächtigten Autoritarismus bzw. Totalitarismus.
- Unterminierung von Demokratie und Deliberation durch normativ und institutionell nicht eingebettete automatisierte Entscheidungsunterstützung oder -findung.
- Dominanz von Unternehmen, die sich staatlicher Kontrolle entziehen, angetrieben durch weitere datenbasierte Machtkonzentration.
- Disruption der Arbeitsmärkte durch umfassende Automatisierung datengetriebener Tätigkeiten und Gefahr zunehmender „Irrelevanz der menschlichen Arbeitskraft“ für die Wirtschaft.
- Vertiefte Spaltung der Weltgesellschaft durch eingeschränkten Zugang und Nutzung digitaler Potenziale hauptsächlich durch wohlhabende Minderheiten der Weltgesellschaft.
- Missbrauch der Technisierung des Menschen auf Grundlage von Human-Enhancement-Philosophien und -Methoden.
Es ist zudem wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die digitalen Umwälzungen auf Gesellschaften treffen, die bereits durch Globalisierung, den Aufstieg neuer Mächte, Fluchtbewegungen und autoritäre Populismen verunsichert sind. Die Bugwellen der Digitalisierung treffen zusammen mit der aktuellen Krise Europas und des Westens sowie mit Frontalangriffen gegen eine kooperations- und regelbasierte multilaterale Weltordnung. Die Systemrisiken des Digitalen Zeitalters könnten sich mit den bereits existierenden Fliehkräften in vielen Gesellschaften verschränken und diese verstärken.
Weichenstellungen für einen europäischen Weg zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft
Die Europäische Union sollte eine Vorreiterrolle für die Integration von Nachhaltigkeit und Digitalisierung wahrnehmen.
EU als Vorreiterin für eine digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft etablieren (S. 23)
Gerade durch die Verstärkung technologischer Innovationen und deren systematische Verbindung mit nachhaltigkeitsorientierten sozialen, kulturellen und institutionellen Innovationen könnte die Europäische Union (EU) dem globalen Technologiewettlauf eine besondere Prägung geben und die Suche nach Pfaden zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft prägen. In Teilbereichen der Regulierung von Digitalisierung ist die EU bereits Vorreiter. Im Bereich des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre ist die Datenschutzgrundverordnung (EU, 2016) weltweit bislang einzigartig.
Privatsphäre schützen (S. 21)
Sie verkörpert ein Europa, das Grundrechte gegenüber kommerzieller wie staatlicher Datensammelwut verteidigt. Die EU arbeitet zudem an einem europäischen Datenraum, der Bürger*innen und Unternehmen ein hoch entwickeltes, gut funktionierendes, transparentes System öffentlicher Daten, Informationen, Dienste und Standards bieten soll. Dieses System soll auch dazu beitragen, Wettbewerbsfähigkeit und Datenschutz zusammenzuführen, um im besten Falle Wettbewerbsvorteile für Unternehmen aus dem EU-Raum – z. B. im Wettbewerb mit China und den USA – zu schaffen. Die EU hat ebenso eine Vorreiterrolle im Bereich der Nachhaltigkeitspolitik (z. B. ist Umweltschutz als EU-Ziel in der Grundrechtecharta verankert, und die EU arbeitet derzeit an einem neuen Umweltaktionsprogramm und einer Dekarbonisierungsstrategie als Beitrag zum Pariser Übereinkommen). Die EU ist jedoch (noch) keine Pionierin, wenn es um die dringend notwendige, umsetzungsorientierte Verzahnung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung geht. Überlegungen, wie ethische Grundsätze für KI ausgestaltet werden könnten oder wie digitaler Wandel für die Verwirklichung der SDGs genutzt werden sollte, stehen noch am Anfang.
Für einen europäischen Weg zu digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaften schlägt der WBGU Weichenstellungen auf fünf unterschiedlichen Bühnen vor, um den tiefen Umbruch für Nachhaltigkeit im Digitalen Zeitalter zu meistern. Gelingen kann dieser Weg nur dann, wenn die Weichenstellungen auf den fünf Bühnen miteinander verzahnt werden.
- Neuer Humanismus für das Digitale Zeitalter – das normative Fundament unserer Gesellschaften erneuern: Der WBGU entwickelt einige Grundzüge eines neuen Humanismus für das Digitale Zeitalter, um die fundamentalen und gefährdeten Errungenschaften von Humanismus und Aufklärung der vergangenen zwei Jahrhunderte zu verteidigen und zugleich attraktive Zukunftsperspektiven für eine digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft zu schaffen. Unsere Hoffnung ist, dass Europa zu einer solchen zivilisatorischen Anstrengung in der Lage sein könnte.
- Gesellschaftlichen Diskurs zu neuen normativen Fragen beginnen (S. 23) – Charta für den Übergang zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft: Gesellschaftliche Diskurse für einen neuen Humanismus brauchen einen Startpunkt. Der WBGU hat auf der Grundlage seiner Analysen und Diskussionen wesentliche Prinzipien und Leitplanken für die digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft in einer Charta verdichtet. Zu ihnen gehören der Schutz des Planeten sowie die Bewahrung der Integrität des Menschen und menschlicher Würde. Sie umfasst zudem die Unterstützung lokaler und globaler Fairness, Gerechtigkeit sowie Solidarität unter den Bedingungen digitaler Umwälzungen. Schließlich beinhaltet die Charta die Stärkung von Welt(umwelt)bewusstsein und von Kulturen und Ordnungen globaler Kooperation durch Nutzung digitaler Möglichkeiten sowie die Entwicklung von KI, welche menschliche Entfaltungsmöglichkeiten, gesellschaftliche Lernfähigkeit und soziale Kohäsion unterstützt. Die Charta kann Ausgangspunkt zur Erneuerung der Nachhaltigkeitsparadigmen werden und unsere gemeinsame digitale Zukunft national, europäisch und global ins Zentrum der Anstrengungen stellen. Die Charta knüpft an die Agenda 2030 an und geht zugleich über sie hinaus, um normative Grundlagen unserer Gesellschaften im Digitalen Zeitalter zu markieren.
- Bausteine einer handlungsfähigen Verantwortungsgesellschaft: Wissenschaft und Bildung sind Grundlagen für Freiheit, für Teilhabe und für Eigenart der Einzelnen im Sinne zukunftsorientierter und kreativer Teilhabegesellschaften. Die Anforderungen an unsere Gesellschaften können nicht nur durch einzelne Politikinstrumente (wie CO2-Steuer, Ressourcenbepreisung oder eine neue Weltwettbewerbsordnung) „gelöst“ werden. Vielmehr müssen handlungsfähige Verantwortungsgesellschaften entwickelt und gestärkt werden, damit die skizzierten Umbrüche gemeistert und gestaltet werden können.