WBGU: Unsere gemeinsame digitale Zukunft

Digitalisierung offeriert ungeheures Spektrum an Möglichkeiten zur Unterstützung der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit

Auf der anderen Seite kann – und muss – werden, was noch nicht ist. Denn die Digitalisierung offeriert ein ungeheures Spektrum an Möglichkeiten zur Unterstützung der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit (WBGU, 2011), von der Sensorik bis hin zur selbstorganisierten Systemoptimierung. Um die enorme Spannbreite der Potenziale und Risiken im Kontext von Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu verdeutlichen hat der WBGU drei Dynamiken konzipiert (Abb. 2). In der Ersten Dynamik „Digitalisierung für Nachhaltigkeit“ (grün) wird der Blick auf die Umsetzung der Agenda 2030 mit den SDGs gelenkt. Dabei kann es sich nur um eine einstweilige G Etlichen allgemeinen Vermutungen und Erwartungen stehen wenige spezifische und quantitative Analysen gegenüber. Offenkundig ist, dass „die Digitalisierung“ zahlreiche nachhaltigkeitsschädliche wie auch nachhaltigkeitsförderliche Effekte haben kann. Zur ersten Kategorie zählt natürlich der enorme Energiedurst der Informationstechnologien, insofern dieser Durst nicht aus erneuerbaren Quellen gestillt wird. Zur zweiten Kategorie zählt das rasche Entstehen einer immersiven virtuellen Realität, mit der sich vermutlich ein Großteil aller Dienstreisen per Flugzeug einsparen ließen.

 

Abbildung 2
Drei Dynamiken des Digitalen Zeitalters.
Die Grafik zeigt den positiven Fall einer gelungenen Einhegung der Dynamiken durch Zielsetzung und Gestaltung. Alle drei Dynamiken laufen bereits heute parallel an, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität; es handelt sich also nicht um eine strenge zeitliche Abfolge. Jede Dynamik besteht aus unterschiedlich verlaufenden Teilpfaden. Die Bezeichnung der Dynamiken spiegelt die jeweils erforderlichen Handlungsprioritäten wider.
Die Texte unterhalb der Abbildung geben Stichworte zu den Potenzialen (? obere Reihe) und den Risiken (? untere Reihe) der drei Dynamiken.
Quelle: WBGU; Grafik: Wernerwerke, Berlin

Offenkundig ist aber auch, dass eine systematische Analyse der einschlägigen Chancen und Risiken nicht existiert, weder für Deutschland noch für den Globus. Insofern identifiziert der WBGU hier nicht nur große Handlungsdefizite, sondern auch eine eklatante Forschungslücke. Der Beirat fordert ein, die beiden Kardinalherausforderungen „Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ und „digitale Revolution“ endlich gemeinsam zu betrachten. Dafür müssen wirksame politische Anreize und Prozesse geschaffen werden.

Wenn wir nun vom Eingangszitat noch einen Schritt weitergehen, stellt sich unmittelbar die Frage, welche neuen Probleme die Denkweise hervorbringt, mit der sich die alten Probleme möglicherweise lösen lassen. Diese analytische Wendung ist mehr als berechtigt, wie die Chronik der Innovationen und ihrer Folgewirkungen belegt. Niemand wird bestreiten, dass die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zu Beginn der Neuzeit (also gegen 1450 u. Z.) die Grundlage für die spätere Aufklärung und die Demokratisierung des Wissens schuf. Aber neben der Bibel wurden auch Flugblätter produziert, mit denen überwiegend Hass gesät und die entsetzlichen Religionskriege in Deutschland mit vorbereitet wurden. Was sich heute in den internetgestützten „sozialen Medien“ abspielt, wirkt wie eine Wiederholung der Geschichte, allerdings auf einem unvergleichlich höheren technischen Niveau. Die mechanische Nutzung fossiler Brennstoffe hat die industrielle Massenproduktion hervorgebracht und damit viel Wohlstand geschaffen, genauso aber das maschinelle Töten in unzähligen regionalen Konflikten und zwei Weltkriegen ermöglicht.

Man könnte somit aus der Innovationsgeschichte die Vermutung ableiten, dass es so etwas wie ein „retardierendes Moment“ gibt, dass also disruptive technische Neuerungen zunächst eher Fluch als Segen für die Gesellschaft als Ganzes bringen. Es wäre naiv zu meinen, dass diesmal alles anders sei, zumal die digitale Revolution alle früheren technischen Fortschrittsphasen hinsichtlich Durchgriff, Reichweite und Geschwindigkeit wohl in den Schatten stellen wird. Statt auf die freiwillige Selbstzähmung von Technologieentwicklern und politökonomischen Interessen zu hoffen, müssen gemeinwohlorientierte und demokratische Staaten sowohl eine starke antizipative Kapazität aufbauen als auch ein strategisches Bündel von Institutionen, Gesetzen und Maßnahmen schaffen. Nur so können die digitalen Kräfte nutzbar gemacht und zugleich eingehegt werden. Den Blick auf diese Herausforderung, das Digitale Zeitalter selbst im Sinne einer humanistischen, nachhaltigen Weltgesellschaft zu gestalten, wirft der WBGU mit der Zweiten Dynamik „Nachhaltige digitalisierte Gesellschaften“.

Relevante Felder reichen vom Umgang mit den inzwischen breit diskutierten Veränderungen der globalen Arbeitsmärkte über notwendige Reformen im Bildungssystem sowie dem Schutz von individueller Privatheit und digitaler Öffentlichkeit bis hin zur Mammutaufgabe, die Machtverschiebungen im KI-Zeitalter zugunsten einer pluralistischen mündigen Gesellschaft auszurichten. Zukunftsweisend ist auch die Begrenzung des rasant steigenden Verbrauchs von Energie und Ressourcen durch Hard- und Software. Der Elefant im digitalen Raum für die Lösung alter wie auch neu entstehender Probleme bleibt die fehlende transnationale Politik-Architektur („Global Governance“). Die zentrale Herausforderung für die internationale Gemeinschaft besteht darin, trotz des strauchelnden Multilateralismus eine gemeinsame Vorstellung für eine nachhaltige, digital gestützte Zukunft zu entwickeln und in diesem Sinne kollektive Prinzipien, regulatorische Rahmenbedingungen und ethisch-begründete Grenzen zu bekräftigen und zu etablieren. Orientiert an den normativen Grundsätzen der Gewährleistung natürlicher Lebensgrundlagen, gesellschaftlicher Teilhabe, individueller Eigenart und unverletzbarer menschlicher Würde entwickelt der WBGU zu diesen Themenfeldern weitreichende Handlungsempfehlungen.

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