Ernst Ulrich von Weizsäcker 80:
„Wir sind dran: Inspirieren – Reflektieren – Handeln“

Missliche Lage der Parteien

In einem Exkurs streifte der Jubilar kurz die Erosion der Parteienlandschaft. Er ging weit zurück. 1950 bis 1990 seien die „goldenen Jahre der Demokratie“ gewesen. „Die Wirtschaft musste sich dem Staat unterordnen, florierte aber. Der Staat diente ja als Bollwerk gegen den Kommunismus.“ Dann kam 1990 und der Sieg des Kapitalismus. Das Ergebnnis: „Der Kommunismus ist besiegt. Wozu jetzt noch Sozialstaat? Der Staat soll sich dünn machen!“

Für den Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sei der doktrinäre Kapitalismus der 80er (in den USA und England) und der 90er Jahre „grandios gescheitert“: „Ein Kurswechsel hin zu einem progressiven Kapitalismus ist nötig. Dieser progressive Kapitalismus … stellt sicher, dass die Wirtschaft zum Wohle aller funktioniert“, habe Stiglitz vor kurzem gesagt. Laut Weizsäcker muss das Parteienverhalten „auch als Reaktion auf den doktrinären Kapitalismus gesehen werden“. Und er nannte vier Punkte zur heutigen Parteienlandschaft:

  1. Warum ist die SPD so schwach?
  2. Was, zum Kuckuck, ist die Attraktion der AfD?
  3. Brauchen wir wieder die zwei Volksparteien?
  4. Lösungsperspektiven für die SPD.

1. Warum ist die SPD heute so schwach? Weil sie die Ziele, um derentwillen sie gegründet wurde, im Wesentlichen erreicht hat, z.B.:

  • Allgemeines Wahlrecht
  • Tarifverträge mit den Gewerkschaften
  • Altersversorgung
  • Krankenversicherung
  • Arbeitslosengeld
  • Steuerprogression
  • Mitbestimmung

Ralf Dahrendorf habe 1983 vom „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ gesprochen: „In seinen besten Möglichkeiten war das (20.) Jahrhundert sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir fast alle Sozialdemokraten geworden“. Und: „Der Sozialdemokratie ergeht es zum Ausgang des 20. Jahrhunderts wie den Liberalen zu Beginn desselben: Sie verlieren ihre Identität, ihre Unverwechsel barkeit, weil der Kern ihrer Idee Allgemeingut wird,“ habe Fritz Goergen 2015 Habermas geschrieben.  Weizsäcker: „Wer sich dies klarmacht, muss vehement den bei Journalisten beliebten Erklärungen widersprechen, wie: ‚Schröder ist schuld‘, ‚GroKo ist schuld‘, ‚Nahles ist schuld‘, ‚Kevin Kühnert ist schuld'“.

Das “Sozialgesetzbuch“ bestehe in Wirklichkeit aus zwölf Büchern – „August Bebel würde Tränen der Rührung vergießen.“ Jetzt bei der SPD „mit der Pinzette“ noch in der Sozialpolitik nachzubessern, könne zwar nötig sein, sei aber „für die Programmatik einer Volkspartei einfach viel zu wenig“. Da sei es kein Wunder, wenn am Ende nur zwei Prozent der Wähler fänden, dass die SPD die besten Antworten auf die Fragen der Zukunft habe.

2. Was, zum Kuckuck, ist die Attraktion der AfD? Historisch analytisch gesehen, gehören AfD-Wähler zum Abwärtsrüssel der sogenannten „Elefantenkurve“, die  Darstellung des Ungleichgewichts der Vermögensverteilung: Die acht reichsten Milliardäre besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit. „Da entwickelt sich Wut auf die internationalen ‚Eliten’…. und die Schuld schiebt man fälschlich der EU zu. Die Wut auf die Eliten gehört zum Standard Repertoire der AfD.“

Und dann seien 2015 die Flüchtlinge dazugekommen, denen der Staat angeblich die Wohnungen gegeben habe, die nun den Armen in Ostdeutschland fehlten. „Noch mehr Wut. Aber keine praktischen Antworten….“ Dabei sei die Tragödie für die AfD-Wähler: Schuldzuweisung an die EU oder gar die Renationalisierung der Wirtschaft sei „das idiotischste Rezept für die Menschen im Abwärts-Elefantenrüssel. Weizsäcker: „Nein! Nur in der EU und im Kräftemessen der EU mit USA und China geht‘s wieder aufwärts!“

3. Brauchen wir wieder die zwei Volksparteien?

Ob wir die zwei Volksparteien wieder bräuchten? Und ob wir dazu die „Groko“ zertrümmern müssten? („noch so eine gängige Journalisten-Weisheit“)
a) Richtig sei: Die Große Koalition dürfe kein Dauerzustand sein, denn das stärke die Randparteien.
b) Aber keinem OECD-Land gehe es besser als Deutschland mit seiner momentanen Regierung.
c) Man verstehe nicht recht, warum die Große Koalition ständig „Denkzettel“ bekommen müsse. „Seien wir doch froh, dass bei uns Volksverdummer wie Salvini, Orban, Trump oder Boris Johnson keine Mehrheiten kriegen! Was ich verstehe, ist dass das alte CDU/SPD Spektrum die heutigen Herausforderungen nicht mehr gut abdeckt.“
d) Historisch: in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg sei es wunderbar gewesen, dass es eine eher vorsichtige und eine progressive Volkspartei mit „sozialdemokratischem“ Programm gegeben habe, die einander etwa alle 10 Jahre abwechselten. „Aber diese Konstellation ist jetzt Geschichte.“
e) Die wenigen übriggebliebenen Länder mit der Aufteilung in zwei große Volksparteien seien heute eher abschreckend, etwa Polen, Türkei, Großbritannien oder die USA. Die Länder seien gespalten, der Umgangston hasserfüllt, und Sieger seien meistens Rechtsradikale. „Natürlich wünsche ich mir eine große linke Volkspartei. Die muss die sich aber mehr um die Zukunft kümmern! Da haben die Grünen einen Vorteil vor der SPD, weil sie programmatisch mehr auf die Zukunft ausgerichtet sind. Aber warum dann nicht eine Partei wie die von Jesse Klaver, 33, gegründete holländische GroenLinks, inzwischen schon drittstärkste Partei in Holland?“

Folgt: Lösungsperspektiven für die SPD