„Eine Frage des Überlebens für den ganzen Kontinent“

Atom- und Kohleausstieg

Wir haben in den letzten Jahren erstens die Entscheidung getroffen, bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen, wenn auch aus anderen Gründen der Nachhaltigkeit, nämlich weil wir glauben, dass das Abfallmanagement für die Kernenergie nicht nachhaltig ist und auch die Risiken zu groß sind.

Zweitens haben wir uns entschieden, bis spätestens 2038 – wenn möglich, bis 2035 – aus der Kohleenergieerzeugung auszusteigen. Deutschland hat heute noch einen sehr hohen Kohleanteil – etwa 30 Prozent – an der Stromgewinnung. Der Ausstieg ist daher ein gewaltiger Schritt, insbesondere für die Menschen, die Braunkohle abbauen und die strukturell in eine völlig neue Lage kommen.

Das ist aber nur der kleinere Teil. Wenn wir uns überlegen, dass wir die Energieversorgung, also erst einmal die Stromversorgung, auf CO2-Emissionsfreiheit umstellen, dann ist das eine Aufgabe. Aber wenn wir uns den Primärenergieverbrauch Deutschlands anschauen, dann sehen wir, dass der Strom 22 Prozent ausmacht und 78 Prozent unseres Energieverbrauchs in das Heizen, in die Mobilität oder in die industrielle Produktion gehen.

Jetzt bleiben wir einmal einen Augenblick beim Strom. Da haben wir uns vorgenommen, bis 2030 65 Prozent, also rund zwei Drittel, mit erneuerbaren Energien zu erzeugen. Das ist für ein Land, in dem die Sonne nicht so häufig scheint und der Wind auch recht unregelmäßig weht, ziemlich viel. Das bedeutet, völlig neue Leitungsstrukturen aufzubauen, weil die Energieerzeugungsquellen natürlich zumeist woanders liegen und nicht am Ort des Energieverbrauchs. Außerdem haben wir uns vorgenommen, die CO2-Emissionen bis 2030 um insgesamt 55 Prozent zu senken, um dann 2050 bei 95 Prozent – was man gemeinhin als Klimaneutralität bezeichnet – anzukommen.

Umstellung der Stromerzeugung Riesenkraftakt – Thema „grüner Wasserstoff“

Die Umstellung der Stromerzeugung ist schon ein Riesenkraftakt. Wahrscheinlich wird man es auch gar nicht schaffen, bei der Stromerzeugung auf einen Anteil von 100 Prozent erneuerbarer Energien zu kommen – wir liegen jetzt bei 42 Prozent durch Ressourcen im eigenen Land –, weil bei uns die Energiekapazität, also die Effizienz, mit der man Strom aus Wind und Sonne erzeugen kann, nicht sehr hoch ist. Es gibt Regionen in der Welt, in denen das viel besser geht.

Aber es bleiben immer noch 78 Prozent für industrielle Produktion, Mobilität und Wohnen. Dabei wird das Thema „grüner Wasserstoff“ eine Riesenrolle spielen, obwohl wir technologieoffen an alles herangehen. Das wird auch völlig neue Verwebungen auf der Welt mit sich bringen, weil man „grünen Wasserstoff“ an vielen anderen Stellen außerhalb Europas sehr viel besser erzeugen kann. Aber auch in Europa werden wir das tun.

Das bedeutet dann – deshalb bin ich sehr froh, dass man hier von vielen Industrieunternehmen hört, dass sie in die Klimaneutralität einsteigen wollen –, dass wir die Prozesse etwa in der Stahlproduktion, im Maschinenbau oder anderem vollkommen um-stellen müssen. Ich hatte vorhin ein sehr interessantes Gespräch über die Möglichkeiten der Biotechnologie. Diese wird natürlich auch eine Riesenrolle bei der Transformation all unserer Wertschöpfungsketten spielen.

„All das muss neu gedacht werden“

Das heißt also, wir werden dramatische Veränderungen erleben, ohne dass wir die Produkte, an die wir heute gewöhnt sind, aus der Hand geben müssen. Aber all das muss neu gedacht werden. Dafür müssen die staatlichen Rahmenvoraussetzungen geschaffen werden – und auch die Wirtschaftsunternehmen müssen dazu bereit sein, sich auf einen innovativen Pfad zu begeben.

Jetzt darf ich Ihnen von Deutschland erzählen. Wir sind ja eigentlich ein relativ friedliches Land. Aber es gibt schon erhebliche gesellschaftliche Konflikte zwischen denen, die finden, dass es oberste Dringlichkeit hat, sich auf diesen Weg zu machen, und denen, die das nicht finden. Ich sage noch einmal: Bis 2050 sind es 30 Jahre. Ich kann mich gut an die deutsche Wiedervereinigung erinnern, die vor 30 Jahren stattfand. Man kann in 30 Jahren viel schaffen. Aber ich weiß auch, wie knapp 30 Jahre sind, wenn man eine digitale Transformation und eine Wertschöpfungstransformation im Sinne völlig anderer energetischer Grundlagen schaffen will.

„Ungeduld der Jugend positiv und konstruktiv aufnehmen“

Deshalb drängt die Zeit. Deshalb müssen wir, die Älteren, auch aufpassen – ich bin 65 Jahre alt –, dass wir die Ungeduld der Jugend positiv und konstruktiv aufnehmen und verstehen, dass sie einen anderen Lebenshorizont haben, der weit über 2050 hinaus reicht. Damit stellt sich natürlich die Frage, was man dann an Artenvielfalt und an Klimaverträglichkeit auf dieser Welt noch haben wird. Deshalb sind wir zum Handeln auf-gefordert.

Jetzt geht es darum, neue gesellschaftliche Konflikte zu überwinden. Denn es gibt auch in Deutschland eine große Gruppe von Menschen, die das Ganze nicht für so dringlich hält. Die ist noch nicht davon überzeugt, dass das das Allerwichtigste ist. Wie nehmen wir die mit? Demokratien haben die Aufgabe, den einzelnen Menschen mit-zunehmen und ihn für etwas zu begeistern. Dabei besteht für mich das größte gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, weil der ländliche Raum sehr viel mehr dazu beiträgt, die Veränderungen sozusagen zu ertragen, und der städtische Raum sehr viel schneller die Veränderungen für sich nutzen kann, weil die Infrastrukturen in den Städten besser sind. Man kann zum Beispiel auf individuelle Mobilität in einer Stadt sehr viel einfacher als auf dem Land verzichten.

Folgt: „Die Emotionen mit den Fakten versöhnen“