„Eine Frage des Überlebens für den ganzen Kontinent“

Multipolarität

Vielleicht ist es ja so, dass überall auf der Welt alle spüren, dass sich durch die Digitalisierung und die Herausforderungen der Nutzung unserer Ressourcen auf der Erde etwas dramatisch verändert – ob man es nun anerkennt oder nicht. Das hat in den letzten Jahren doch dazu geführt, dass sich mehr und mehr Länder mehr auf sich selbst konzentrieren und dass die Spannungen zwischen den verschiedenen Regionen der Welt ja nicht unbedingt kleiner geworden sind.

Deshalb ist Multipolarität natürlich eine schwierige Aufgabe, eben weil sich die Pole in einem Spannungsverhältnis befinden und weil sich die Stärken der Pole ja auch permanent ändern. Wenn wir uns einmal anschauen, wie das Bruttoinlandsprodukt von China vor 30 Jahren aussah, so war es deutlich geringer als das von Deutschland. 2007 hat China uns überholt; und heute ist China massiv stärker. Dieses Wachsen und Abnehmen der verschiedenen Pole verursachen natürlich Unsicherheit. Und daraus entstehen wieder Spannungen. Diese müssen wir mit bedenken und mit denen müssen wir uns herumschlagen.

Heute, fast genau zu dieser Stunde, finden in Israel in Yad Vashem die Feiern zum Gedenken an den Holocaust statt. Der deutsche Bundespräsident ist dort und wird für Deutschland noch einmal auf unsere Schuld, die wir über die Welt gebracht haben, hinweisen. Er wird aber auch versprechen, dass wir alles tun wollen, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Wir blicken jetzt auf 75 Jahre friedliches Zusammenleben in Europa zurück. Aber nicht bei allen ist das so. Wir alle sind ja in den ersten Tagen dieses Jahres aufgeschreckt, als wir plötzlich die Spannungen im Iran und Irak gesehen haben. Wir haben uns Sorgen gemacht und gefragt: Wo wird das enden? Wie kann man deeskalieren?

Deutschland gehört zu den Ländern, die sagen: Wenn wir unvollkommene Abkommen haben – das Nuklearabkommen mit dem Iran ist sicherlich ein unvollkommenes Ab-kommen –, dann lasst uns trotzdem das Unvollkommene nicht wegwerfen, bevor wir nicht etwas Besseres haben. Deshalb setzen wir uns dafür ein, das Nuklearabkommen zu erhalten. Aber wir haben jetzt auch den Streitschlichtungsmechanismus ausgelöst, weil der Iran natürlich nicht den Eindruck haben darf, dass er sich an nichts mehr halten muss. Das wäre die falsche Botschaft.

Flüchtlinge – Syrien – Libyen

Wir haben erlebt, dass wir uns nicht von den Ereignissen der Welt abkoppeln können. Deutschland hat 2015 zusammen mit vielen anderen europäischen Ländern sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Ich habe immer wieder gesagt – ich glaube, auch an diesem Ort –: Wenn man nach dem Fehler fragt, dann war der Fehler mit Sicherheit nicht, Menschen aufzunehmen, die vor unseren Türen standen, sondern der Fehler war, im Vorhinein nicht darauf geachtet zu haben, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben konnten. Wenn ein Land wie Syrien mit knapp über 20 Millionen Einwohnern eine Bevölkerung hat, die zur Hälfte geflüchtet ist – entweder als Binnenflüchtlinge oder ins Ausland –, wenn man sieht, dass die Türkei an die vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, dass der Libanon ganz wesentlich auch durch die Flüchtlinge instabil geworden ist und wie Jordanien darunter leidet, dann kann man nur sagen: Wir müssen immer wieder alles tun, um Friedensprozesse in Gang zu setzen, selbst wenn dies noch so schwierig ist.

Wir müssen schauen, dass sich das, was wir in Syrien sehen, in Libyen nicht wiederholt. Wir haben am letzten Wochenende einen Versuch gemacht – mehr ist es ja nicht –, für Libyen eine Lösung zu finden, bevor es einen ähnlichen Stellvertreterkrieg gibt, wie er auf den Schultern der syrischen Menschen lastet. Wir sehen in Bezug auf Libyen, dass die Länder in der angrenzenden Sahelzone, die zu den ärmsten Ländern dieser Welt zählen – in Mali und Niger leben Menschen, die, jedenfalls die allermeisten, gar nicht davon träumen können, jemals nach Davos zu kommen –, jetzt vom Terrorismus überrollt sind, weil Libyen ein instabiler Staat ist und viele Waffen von dort herkommen. Wir alle miteinander müssen schauen – Deutschland versucht, seinen Beitrag zu leisten; und er wird noch größer werden müssen –, dass diese Länder nicht völlig destabilisiert werden. Alle Entwicklungsanstrengungen und Entwicklungshilfen laufen Gefahr, nicht mehr wirken zu können, wenn ein Land wie Niger schon 30 Prozent seines gesamten Einkommens für seine Sicherheit ausgeben muss. – Wir in Deutschland reden gerade einmal von über zwei Prozent für die Verteidigungsausgaben. – 30 Prozent des Haushalts, der ohnehin sehr gering ist, werden ausgegeben; und es reicht immer noch nicht. Die Terroristen sind immer noch besser ausgerüstet.

Deshalb wünsche ich mir natürlich, dass diese Länder, wenn sie darum bitten, dass wir die Terrorismusbekämpfung genauso anlegen, wie wir es vor unserer Haustür gemacht haben, nämlich mit einer groß angelegten Koalition, dann auch von den Vereinten Nationen unterstützt werden und sie ein robustes Mandat bekommen. Sie sind ja bereit, für ihre Länder zu kämpfen. Aber wir haben bis jetzt noch nicht geschafft, ihnen auch die Unterstützung der Vereinten Nationen zukommen zu lassen.

„Ohne Sicherheit keine Entwicklung“

Wenn wir uns anschauen, was Syrien für uns in Europa bedeutet hat, dann bedeutet das, dass wir uns noch viel mehr präventiv einsetzen müssen, um Gutes zu tun, um Flucht- und Migrationsbewegungen zu verhindern oder eine geordnete Migration hinzubekommen. Deshalb darf ich heute hier ankündigen, dass wir uns an internationalen Hilfsaktionen weiterhin beteiligen werden – auch an der Impfallianz Gavi. In der Zeit bis 2025 werden wir wieder 600 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um Krankheiten zu bekämpfen, um medizinische Systeme zu verbessern und damit auch Stabilität zu fördern. Gleichzeitig müssen wir natürlich auch Sicherheit garantieren. Denn ohne Sicherheit gibt es keine Entwicklung – und ohne Entwicklung gibt es mit Sicherheit auch keine Sicherheit.

Deutschland ist Teil der Europäischen Union. Wir werden – Herr Schwab hat darauf hingewiesen – im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Die Europäische Union wird sich am 31. Januar substanziell verändern. Bis jetzt hat es immer Länder gegeben, die ihr beigetreten sind. Es gibt glücklicherweise auch noch ein paar Länder, die ihr beitreten wollen. Aber ein Land verlässt uns; und das ist Großbritannien. Das ist schwerwiegend, aber wir finden uns natürlich damit ab. Es ist der Wille der britischen Bevölkerung gewesen. Wir werden auch alles dafür tun, gute, intensive, freundschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen mit Großbritannien zu erhalten.

Europa muss – das entspricht auch dem Anspruch, den Ursula von der Leyen und die neue Kommission formuliert haben, eine geopolitische Kommission zu werden – sicherlich seine Stimme klarer erheben. Ich finde, die Aussage, der erste CO2-emissionsfreie Kontinent zu werden, ist auch eine gute Aussage für die Welt. Es ist genauso wichtig, mehr im Entwicklungsbereich zu tun und mehr zu den Friedenslösungen dieser Welt beizutragen.

Folgt: Unter deutscher Präsidentschaft: Afrika- und Chinagipfel