Vorbeugen besser als heilen

Krisen schaffen Klarheit und eröffnen Chancen – Fünf Vorschläge
-Gastbeitrag von Franz Baumann-

Covid-19 enthält Lehren für die Begrenzung der Erderhitzung. Fünf Vorschläge, was es jetzt braucht, um eine Havarie abzuwenden. Mike Campbell, eine Figur in Hemingways Roman „Fiesta“, wird gefragt, wie es zum Bankrott kam. „Zunächst ganz allmählich, dann plötzlich“, ist seine Antwort. Covid-19 zeigt, wie abrupt der Übergang von Glattgehen zu Havarie sein kann.

Seit Februar vernichtete der Coronavirus unvorstellbare mehrere Billionen Euro und verdeutlichte damit die Risiken sowie die Instabilität und die Destruktivität einer auf fossilen Brennstoffen und endlos wachsendem Güterkonsum basierenden, integrierten Weltwirtschaft. Krisen schaffen Klarheit und eröffnen Chancen. Covid-19 enthält Lehren für die Begrenzung der Erderhitzung, zum Beispiel folgende fünf.

1.

Fakten zählen.

Verantwortliche Politiker müssen, analog zur Viruskrise, den Klimanotstand als solchen bezeichnen und entsprechend handeln. Das erfordert einerseits die dramatische Verringerung von CO2-Emissionen, nämlich um jährlich 7,6 Prozent bis 2030, wenn das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Ziel von 1,5 Grad Erderwärmung erreicht werden soll. Um dies zu schaffen, müssen nahezu 90 Prozent der bekannten fossilen Brennstoffreserven in der Erde bleiben, also abgeschrieben werden. Eine Herkulesaufgabe angesichts der globalen Förderungsplanungen für fossile Brennstoffe, die noch jetzt um 120 Prozent höher liegen als mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar.

Andererseits ist es unumgänglich, die gesamte globale Energiewirtschaft auf – von Sonne und Wind gewonnene – Elektrizität umzustellen. Ein hoher CO2-Preis sowie das Abschaffen aller Subventionen für fossile Brennstoffe sind elegante, marktwirtschaftliche Methoden, um diese Umstellung voranzutreiben. Je früher und nachdrücklicher, je besser. Weil Jahrzehnte verbummelt wurden, reichen kleine Schritte nicht mehr aus. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina fordert deshalb nachdrücklich „einen unmittelbaren Transformationsschub“.

2.

Hohe staatliche Kompetenz und Kapazität sind unabdingbar.

Weil vorbeugen besser und billiger ist als heilen, braucht es eine über den Tag hinausgehende Risikoanalyse, politische Prioritätensetzung und transparente sowie umfassende Gegenmaßnahmen. Das fossile Zeitalter ist am Ende. So zu tun, als sei dies nicht der Fall, verschiebt nur die unvermeidlichen Anpassungskosten in die Zukunft. Das ist unsolide. Viel Zeit ist vertan worden, aber ein treffliches afrikanisches Sprichwort besagt: „Der beste Moment, einen Baum zu pflanzen, war vor Jahrzehnten, der zweitbeste ist heute.“ Wichtig ist es, wenn die Coronakrise überstanden ist, den Spielraum zu nutzen und die notwendigen Anpassungen strategisch einzuleiten, anstatt in ein paar Jahren unter Krisendruck handeln zu müssen.

Am Verbrennungsmotor festzuhalten, an der Braunkohle, am steuerbefreiten Flugbenzin, an der Massentierhaltung oder an der Subvention fossiler Brennstoffe bedeutet, langfristigen Schaden für kurzfristige Bequemlichkeit in Kauf zu nehmen. Es ist wichtig, die Zeichen der Zeit zu sehen, und sie als Chance zu begreifen. Heutige Unzulänglichkeiten und Untätigkeit verschieben Risiken sowie Kosten in die Zukunft. Die Physik der Erderhitzung hat ihren eigenen Kalender, und die realistische Gefahr besteht, dass wir uns Kipppunkten nähern, deren Überschreiten katastrophale, nicht rückgängig zu machende Folgen hat. Nachdem der Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hat, entwickelt sich eine Eigendynamik, die weitere menschliche Interventionen irrelevant macht. Carpe diem.

3.

Als globales Politikproblem ist die Erderhitzung nur politisch in den Griff zu bekommen.

Denn sie ist keine Angelegenheit persönlicher Tugend oder individueller Lebensstile, sondern ein Problem solch großen Ausmaßes, dass wissenschaftliche, wirtschaftliche oder persönliche Anstrengungen allein nicht genug ausrichten können, außer sie werden politisch in großem Maßstab strategisch und dauerhaft vorangetrieben. Individuelle Anstrengungen sind zweifellos notwendig, aber nicht ausreichend. Vorausschauende Schadensbegrenzung braucht es, internationale Zusammenarbeit, Kompromisse und, ja, gewaltige finanzielle Leistungen, um es zu ermöglichen, dass das Wirtschaftswachstum im globalen Süden nicht mit fossilen Brennstoffen befeuert wird.

Der Markt wird es nicht richten. Er kann nicht einmal beurteilen, ob es ökonomisch sinnvoll ist, die menschliche Zivilisation zu retten. Weil sich der Kapitalismus globalisiert hat, aber nicht die notwendige demokratische Kontrolle, wird der Kampf gegen die Erderhitzung nur gelingen, wenn das Politische gestärkt wird. Die von der Coronakrise unerwartet erschlossene Chance muss genutzt werden.

4.

Preise müssen Kosten reflektieren.

Weil bislang die tatsächlich anfallenden Umwelt- und Gesundheitskosten fossiler Energien nicht beglichen, sondern auf die lange Bank geschoben wurden, ist Treibhausgasneutralität eine ebenso gigantische wie politisch heimatlose Aufgabe. Anstatt ein Nischen- oder Wohlfühlthema zu sein, geht es um nicht weniger als um den radikalen und sofortigen Umbau der Wirtschaft und Landwirtschaft, der Städte und der Mobilität, des Wohnens, Essens und Reisens.

Verzwickt, schmerzhaft und teuer wird es werden, aber lange nicht so sehr wie weitere Lösungsverschleppung. Die baldige Umstellung auf Nachhaltigkeit wird kostspielig und kompliziert, aber billiger, als weiterhin zu wenig zu tun. Vor Jahren hätte ein mäßiger CO2-Preis ausgereicht. Die CDU beschloss ihn 1995 auf ihrem Parteitag mit dem Motto „Sicher in die Zukunft“. Heute kalkuliert das Umweltbundesamt 180 Euro pro Tonne CO2.

5.

Technologische Innovation ist angesagt, aber kein Allheilmittel.

Angenommen, ein hoher CO2-Preis und Milliardeninvestitionen in erneuerbare Energien und Speicherung führen zu einer technologischen Revolution kopernikanischen Ausmaßes. Selbst dann ist es zwar möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren technische Lösungen zur Verfügung stehen, die es erlauben, dass die Armen der Welt wohlhabend werden, ohne dass die Reichen sich einschränken müssen – während die Weltbevölkerung um weitere 50 Prozent zunimmt.

Grenzenloses Wachstum ist die Logik – besser der Fetisch – der Weltwirtschaft, und zwar sowohl in marktwirtschaftlichen als auch in staatsdirigistischen Ländern. Nicht nur die Klimaleugner sind anti-wissenschaftlich, sondern auch die Technologie-Enthusiasten und Erneuerbare-Energie-Optimisten, welche die Möglichkeit nicht bezweifeln, dass elf Milliarden Menschen so leben können wie die europäische, nordamerikanische, australische oder japanische Mittelklasse. Präsident Trumps Flugverbot für Europa betrifft 550 Flüge am Tag mit über 120.000 Passagieren. Von der Willkür der Maßnahme abgesehen stellt sich die Frage, ob dieses tägliche Volumen normal sein kann? Oder erstrebenswert? Oder nachhaltig?

Beispiellos schnelle und weitreichende Systemübergänge

Die Covid-19-Krise könnte ein heilsamer Schuss vor den Bug sein, wenn sie zu einer realistischen Einschätzung der existenziellen Gefahr führt, in der sich Menschheit und Natur befinden. Vielleicht dringt die Nachricht nun endlich durch.

Der Weltklimarat ist vorsichtig optimistisch, allerdings mit gewichtigem Vorbehalt: Die – solange es Menschen auf der Erde gibt – noch nie dagewesene und lebensbedrohende Krise könnte zwar gelöst werden, aber nur durch „schnelle und weitreichende Systemübergänge in Energie?, Land?, Stadt? und Infrastruktur? (einschließlich Verkehr und Gebäude) sowie in Industriesystemen“, die „beispiellos sind bezüglich ihres Ausmaßes“. Dabei muss – unter der Leitfrage was es braucht, nicht, was geht – alles auf eine grundsätzliche Vereinbarkeit mit Treibhausgasneutralität überprüft werden.

Und weil die Erderhitzung ein globales Problem ist, muss die Antwort beinhalten, was es global braucht und was der Beitrag eines reichen und hoch entwickelten Landes wie Deutschland zu sein hat. Die Frage ist nicht, was zu tun ist, sondern ob es die Menschheit als Kollektiv schafft, und zwar in diesem Jahrzehnt. Deutschland hat dabei eine Schlüsselrolle.

Franz Baumann, Ph.D., Gastprofessor an der New York University, arbeitete seit 1980 für die Vereinten Nationen und war bis 2015 Beigeordneter General­sekretär sowie Sonder­berater für Umwelt­fragen und Friedens­missionen, damit einer der ranghöchsten deutschen UN-Beamten. Seit 2017 ist der studierte Verwaltungs­wissen­schaftler und promovierte Politik­wissen­schaftler Gast­professor an der New York University. Baumann fordert eine Stärkung und Professionalisierung der Vereinten Nationen. (Foto @ hertie-school, Talisman Brolin)