Regierungs-Prognosen des Stromverbrauchs fraglich

Sieben bis zehn oder 23 Mio. E-Autos bis 2030?

Zweifel am für 2030 von der Bundesregierung prognostizierten Stromverbrauch formulierten die der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in einer Kleinen Anfrage (19/17690). Doch die Bundesregierung hält an ihrer Prognose des Stromverbrauchs für 2030 fest, schreibt sie in ihrer Antwort (19/18989) auf die Grünen-Anfrage – so der parlamentseigene Pressedienst heute im bundestag (hib) am 25.05.2020. Unterschiede zu anderen Studien erkläre die Regierung (das BMWi) in der Antwort durch abweichende Berechnungsgrundlagen. So rechne die Bundesregierung beispielsweise mit sieben bis zehn Millionen Elektrofahrzeugen 2030 – eine von den Fragestellern zitierte Prognose unterstelle dagegen 23 Millionen E-Autos im selben Jahr. Dadurch ergäben sich Abweichungen beim Bruttostromverbrauch von etwa 25 Prozent und verschiedene Angaben zum zukünftigen Energiemix. Besonders der Anteil der Erneuerbaren Energien (EE) wird unterschiedlich angegeben.

Sieben bis zehn oder 23 Mio. E-Autos bis 2030? – Foto © Veronika Neukum für Solarify

Gemäß dem Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur erfolgt derzeit kein nennenswerter Rückbau von EE-Anlagen – diese fallen nach 21 Jahren aus der EEG-Umlage. „Die Nutzungsdauer einer Anlage hängt jedoch nicht ausschließlich von der Zahlung der EEG-Umlage ab“, schreibt die Bundesregierung. (hib/FNO) Solarify dokumentiert die Antwort.

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage

der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Dr. Ingrid Nestle, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/17690

Prognosen zum Stromverbrauch und Anteil erneuerbarer Energien

Vorbemerkung der Fragesteller
Die Bundesregierung geht davon aus, dass Deutschland bis 2030 einen etwa gleich bleibenden Stromverbrauch von ca. 590 Terawattstunden im Vergleich zu 2018 haben wird und berechnet auf dieser Basis auch die Erreichung ihres Ziels eines Anteils der erneuerbaren Energien von 65 Prozent am Bruttostromverbrauch bis 2030 (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Mündliche Frage 49 der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Plenarprotokoll 19/117; Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 46 des Abgeordneten Oliver Krischer auf Bundestagsdrucksache 19/14492). Dem stehen Untersuchungsergebnisse im Auftrag des Bundesverbandes Erneuerbare Energien ebenso gegenüber wie eine jüngst erschienene Untersuchung des Energiewirtschaftlichen Institutes der Universität Köln (EWI) (energate-messenger.de/news/199290/ewi-heizt-debatte-ueber-gruenstromluecke-an), die einen Verbrauch von 748 Terawattstunden annimmt, also eine Steigerung um 26 Prozent gegenüber 2018 prognostiziert. Der Anteil der erneuerbaren Energien liegt nach Einschätzung des EWI bei nur 46 Prozent. In diesem Szenario würde das Ziel der Bundesregierung (siehe oben) also um fast 20 Prozentpunkte unterschritten. Auch die Prognosen des Stromverbrauchs für 2035 im Szenariorahmen 2021 bis 2035 der Übertragungsnetzbetreiber sind mit 638–729 TWh deutlich höher und legen damit nahe, dass auch bis 2030 mit einem deutlich höheren Verbrauch zu rechnen ist, als dies derzeit von der Bundesregierung angenommen wird.

1. Geht die Bundesregierung weiterhin davon aus, dass der Bruttostromverbrauch 2030 leicht unter dem Verbrauch in 2018 liegen wird, also bei rund 590 Terawattstunden?

Wie bereits in der Antwort der Bundesregierung zu Frage 1 der Kleinen Anfrage und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Prognosen zum Stromverbrauch unter den Vorzeichen der Sektorkopplung“ auf Bundestagsdrucksache 19/18993 (www.bmwi.de/Redaktion/DE/Parlamentarische-Anfragen/2020/19-17475.pdf?__blob=publicationFile&v=2) dargelegt, enthält das Klimaschutzprogramm ein Zielmodell, dem ein Bruttostromverbrauch von 580 Terawattstunden (TWh) und damit ein Bruttostromverbrauch im Bereich des heutigen Verbrauchsniveaus zu Grunde liegt. Zur Einordnung: Im vergangenen Jahr (2019) lag der Bruttostromverbrauch nach ersten Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen bei 575 TWh. Studien bzw. Szenarien zur künftigen Entwicklung des Stromverbrauchs weisen erhebliche Bandbreiten auf. Die beiden aktuellsten Studien, die zudem im Gegensatz zu bisherigen Veröffentlichungen die Wirkungen der Maßnahmen des Klimaschutzprogramms 2030 berücksichtigen (Institut für Angewandte Ökologie [Öko-Institut e.V.] mit dem Forschungsprojekt „THG-Projektion: Weiterentwicklung der Methoden und Umsetzung der EU-Effort Sharing Decision im Projektionsbericht 2019 (Politikszenarien IX)“ und die Prognos AG mit dem Forschungsprojekt „Energiewirtschaftliche Projektionen und Folgenabschätzungen 2030“), kommen aufgrund von Szenarienrechnungen zu einem Bruttostromverbrauch von 567 bzw. 591 TWh in 2030. Der im Zielmodell des Klimaschutzprogramms unterstellte Stromverbrauch liegt in der Mitte dieses Intervalls.

2. Geht die Bundesregierung davon aus, dass eine Steigerung des Bruttostromverbrauches um rund 80 Terawattstunden zwischen 2030 und 2035 zu erwarten ist, wie dies die Verbindung der bisherigen Annahmen der Bundesregierung mit dem Szenariorahmen der Übertragungsnetzbetreiber (welcher im Szenario B 2035 von einem Bruttostromverbrauch von 670 Terawattstunden ausgeht) nahelegt, und ist aus Sicht der Bundesregierung davon auszugehen, dass die Verbrauchssteigerung ausschließlich zwischen 2030 und 2035 stattfindet, oder wird auch bis 2030 ein steigender Verbrauch erwartet (ggf. bitte konkretisieren, in welchen Bereichen und welchem Umfang diese kurzfristigen Steigerungen stattfinden können)?

Wie bereits in der Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 3 und 4 der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 19/18993 dargelegt, haben die Übertragungsnetzbetreiber im Januar 2020 den Entwurf des Szenariorahmens zum Netzentwicklungsplan 2035 an die Bundesnetzagentur (BNetzA) übergeben. Wie üblich werden angesichts der erheblichen Unsicherheiten, die bei einem so langen Betrachtungszeitraum bestehen, verschiedene Szenarien betrachtet, die gerade auch beim Stromverbrauch eine große Bandbreite möglicher Entwicklungen abdecken. Nach einer öffentlichen Konsultation wird die BNetzA auf dieser Grundlage und ihrer behördliche Abschätzung voraussichtlich im Sommer 2020 eine Genehmigung erlassen (www.netzentwicklungsplan.de).

3. Wo unterscheiden sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Annahmen der Bundesregierung für die Ermittlung des Strombedarfs 2030 von jenen der EWI-Studie, und wie stützt die Bundesregierung ihre Annahmen?

In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl an Studien verschiedener Institutionen veröffentlicht, die auf unterschiedlichen Annahmen basieren und erhebliche Bandbreiten hinsichtlich Abschätzungen zur Entwicklung des Stromverbrauchs aufweisen. Entscheidend sind dabei Annahmen zur Entwicklung bei neuen Stromverbrauchern bzw. der Sektorkopplung (z. B. E-Mobilität, Wärmepumpen, Power-to-X) sowie bei der Energieeffizienz. Beispielsweise verweist die Analyse des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) auf das Technologiemix 80 Szenario der Leitstudie „Integrierte Energie-wende“ (2018) der Deutschen Energie-Agentur (dena). Dieses Szenario unterstellt rund 23 Millionen Elektrofahrzeuge in 2030. Im Klimaschutzprogramms2030 wurde ein Zielwert von 7 bis 10 Millionen Elektrofahrzeugen in 2030 beschlossen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen.

4. Sofern sich die niedrigen Annahmen der Bundesregierung zum Strom-verbrauch auf die Annahmen des Netzentwicklungsplanes 2030 (2019), kurz NEP 2030 (2019), stützen, wird die Bundesregierung ihre Annahmen nun entsprechend des deutlich gestiegenen Stromverbrauch im Szenariorahmen 2035 ebenfalls anpassen?

Es wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen.

5. Welche Energieeffizienzfortschritte wurden in den letzten zehn Jahren in Deutschland erreicht?
6. Wie hat die Bundesregierung auf die Erhöhung des EU-Ziels für Energieeffizienz von 27 auf 32,5 Prozent reagiert (bitte die Maßnahmen auflisten)?
7. Von welchem Umfang an Energieeinsparung geht die Bundesregierung bis 2030 aus?
8. In welchen Bereichen erwartet die Bundesregierung welche Energieeinsparungen und in welchen jeweiligen Größenordnungen, und auf welcher Grundlage kommt sie zu ihren Einsparungserwartungen?
9. Hält die Bundesregierung die bisherigen Anreize und die regulatorischen Rahmenbedingungen für ausreichend, um diese Effizienzziele zu erreichen, und wenn ja, auf Basis welcher Untersuchungen kommt sie zu dieser Einschätzung (bitte die Quelle nennen)?

Die Fragen 6 bis 9 werden gemeinsam beantwortet.
Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Energieeffizienzstrategie 2050 (EffSTRA) ein nationales Energieeffizienzziel für 2030 von minus 30 Prozent Primärenergieverbrauch (PEV) (gegenüber 2008) beschlossen. Das Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung vom Oktober 2019 gibt die aktuellen energie- und klimapolitischen Maßnahmen wider. Die Gesamtwirkung dieses Maßnahmenprogramms wurde in zwei Gutachten abgeschätzt, die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit beauftragt wurden (siehe die Antwort zu Frage 1). Diesen Gutachten zufolge wäre mit dem Maßnahmenprogramm ein Rückgang des PEV von 25 bis 28 Prozent zu erwarten. Maßnahmen zur Erreichung zusätzlicher Minderungen werden in einem Nachsteuerungsmechanismus der EffSTRA vorbereitet. Zudem sieht die EffSTRA für den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz (NAPE 2.0) eine umfassende Evaluierung vor dem Hintergrund nationaler Ziele und europäischer Verpflichtungen im Jahr 2023 vor.
Eine Senkung des PEV bis 2030 um mindestens 30 Prozent (gegenüber 2008)versteht die Bundesregierung als angemessenen deutschen Beitrag zum Effizienzziel der Europäischen Union von insgesamt mindestens minus 32,5 Prozent bis 2030 im Vergleich zu einem Referenzszenario. Die Zielgrößen sind nicht direkt miteinander vergleichbar. Unter Anwendung vergleichbarer Berechnungsgrundlagen zeigt sich eine höhere Minderungsverpflichtung Deutschlands als es das Gesamtziel vorgibt. Die energieeffizienzrelevanten Maßnahmen des Klimaschutzprogramms (z. B. Ausbau der Förderangebote, CO2-Bepreisung) wer-den einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Energieeffizienz bis 2030 leisten. Mit dem NAPE 2.0 werden die Energieeffizienzmaßnahmen gebündelt, konkretisiert und umgesetzt. Die EffSTRA enthält darüber hinaus ergänzende Maßnahmen, mit denen die Erschließung von Effizienzpotentialen sinnvoll un-terstützt werden soll. Die EffSTRA enthält eine ausführliche Maßnahmenliste und kann unter www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/energieeffiezienzstrategie-2050.pdf?__blob=publicationFile&v=12 abgerufen werden.

10. Welcher jährliche Ausbau der erneuerbaren Energien ist aus Sicht der Bundesregierung für die Erreichung des 65-Prozent-Zieles (vgl. Vorbemerkung der Fragesteller) bei einem angenommenen Stromverbrauch von rund 590 Terawattstunden nötig (bitte nach Technologien aufgeschlüsselt angeben)?
11. Welcher jährliche Ausbau der erneuerbaren Energien ist aus Sicht der Bundesregierung für die Erreichung des 65-Prozent-Zieles (vgl. Vorbemerkung der Fragesteller) bei einem angenommenen Stromverbrauch zwischen 638–729 Terawattstunden nötig (bitte nach Technologien aufgeschlüsselt angeben)?
12. Plant die Bundesregierung, ihre Ausbaupfade in einer ähnlichen Dimension zu erhöhen, wie dies im Szenario B 2030 des NEP 2030 (2019) an-genommen wird, welches für den von der Bundesregierung bisher angenommenen Stromverbrauch von 582,7 Terawattstunden und zur Erreichung des 65-Prozent-Zieles (vgl. Vorbemerkung der Fragesteller) mit Ausbaupfaden von jährlich durchschnittlich notwendigen Bruttozubaumengen mit 4,1 Gigawatt Wind onshore, 840 Megawatt Offshore, 4,1 Gigawatt Photovoltaik und 0,18 Gigawatt Biomasse rechnet?

Die Fragen 10 bis 12 werden gemeinsam beantwortet.
Für die Zielerreichung im Jahr 2030 wird gemäß dem Zielmodell des Klimaschutzprogramms von einem Bruttostromverbrauch von 580 TWh ausgegangen. Die konkrete Ausgestaltung von Ausbaupfaden und Ausschreibungsmengen zur Zielerreichung findet im Rahmen der bevorstehenden Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) statt.

13. Von welchen Stilllegungszahlen geht die Bundesregierung für die ab 2021 aus der Finanzierung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) fallenden Erneuerbare-Energien-Anlagen aus (bitte nach Wind onshore, Solar und Bioenergie aufschlüsseln)?

Die Dauer der Zahlungen von Vergütungen für Strom aus Erneuerbaren-Energien-Anlagen beträgt gemäß EEG in seinen jeweils gültigen Fassungen 20 Jahre plus das Jahr der Inbetriebnahme. Die Zahlung von Marktprämien in Zusammenhang mit Ausschreibungen wird gemäß EEG 2017 für die Dauer von 20 Jahren ab Inbetriebnahme gewährt. Bestehende Biomasseanlagen können sich seit 2017 zudem im Zuge von Ausschreibungen um eine Anschlussförderung für die Dauer von 10 Jahren bewerben.
Es kann in erster Näherung davon ausgegangen werden, dass Anlagenbetreiber deren Anlagen in den ersten Jahren ab dem Jahr 2000 zugebaut wurden bzw. in Betrieb gegangen sind, nach Ablauf von 21 Jahren keine EEG-Vergütungen mehr erhalten. Die Nutzungsdauer einer Anlage hängt jedoch nicht ausschließlich von der Zahlung der EEG-Vergütung ab, sondern letztlich davon, ob es dem Betreiber gelingt, einen wirtschaftlichen Betrieb der Anlage zu ermöglichen.

Der Rückbau von Erneuerbare-Energien-Anlagen ist durch Anlagenbetreiber zu melden, wobei nach aktueller Einschätzung die Rückbaumengen noch nicht vollständig erfasst sind. Gemäß Marktstammdatenregister der BNetzA hat bis-lang noch kein nennenswerter Rückbau stattgefunden. Daten über den Anlagenrückbau unter Berücksichtigung des Inbetriebnahmejahres liegen der Bundesregierung nicht vor. Im Übrigen wird auf die Antwort der Bundesregierung auf die Schriftlichen Frage 58 des Abgeordneten Oliver Krischer auf Bundestagsdrucksache 19/17884 verwiesen.

14. Verfolgt die Bundesregierung das Ziel, möglichst viel von der installierten Leistung beziehungsweise den ausgeförderten Altanlagen im Netz zu behalten, und wenn ja, wann und wie wird sie damit beginnen, die speziellen Herausforderungen der Vermarktung des Stroms aus diesen Anlagen außerhalb des EEG zu adressieren und sich für eine praktikable, volkswirtschaftlich sinnvolle Lösung einzusetzen?

Der Betrieb von Stromerzeugungsanlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien ist privilegiert durch eine vorrangige Einspeisung von Erneuerbare-Energien-Strom in das Stromnetz, auch nach Auslaufen der EEG-Förderung. Anlagenbetreiber können erzeugten Strom selbst vermarkten. Darüber hinaus können sie erzeugten Strom – ohne Einspeisung ins öffentliche Netz – selbst verbrauchen. Im Übrigen kann wie bei Windenergie an Land ein verstärktes Repowering, also das Ersetzen von alten durch neue moderne Anlagen, zu deutlich höheren Stromeinspeisemengen führen.

->Quellen: