DIW: Kernenergie weltweit Auslaufmodell

Weltweites AKW-Angebot bedarf genauerer Analyse

Nicht nur bei den potenziellen Nachfragern von Atomkraftwerken haben sich die Strukturen verschoben. Auch auf der Angebotsseite lässt sich eine Verschiebung der Schwerpunktländer erkennen. Die im 20. Jahrhundert dominante Exportnation, die USA hat sich weitgehend aus dem internationalen Atomgeschäft zurückgezogen. Dies gilt auch für Frankreich28. Dagegen hat Russland inzwischen eine dominante Rolle bei Exportbemühungen in Richtung von Neueinsteiger-Ländern eingenommen. Drei der vier derzeit laufenden Kraftwerksprojekte (Bangladesch, Belarus, Türkei) beruhen auf russischer Technologie und Finanzierung (Tabelle 2). Darüber hinaus haben russische Unternehmen mehr Kooperationsabkommen für Technologielieferungen abgeschlossen als die vier nächstgrößten Anbieter (Frankreich, USA, China, Korea) zusammen29; dabei liegt der Schwerpunkt auf Schwellen- und Entwicklungsländern. Neben den oben genannten Kooperationsabkommen unterhält Russland laut der WNA angeblich auch mit 20 weiteren Ländern strategische Beziehungen30.

Derzeit ist unklar, ob China der Atomkraft-Diplomatie Russlands folgen wird und sich ebenso offensiv um potenzielle Neueinstiger-Länder bemühen wird. China hat seit den 1980er-Jahren erhebliche Investitionen in seine Atomwirtschaft vorgenommen und ist inzwischen zu einer mit Russland und den USA äquivalenten Atommacht aufgestiegen31. Bemerkenswert ist dabei insbesondere die Entwicklung eines eigenen nationalen Reaktortyps, genannt Hualong One, der zur Generation III gehört und den etablierten Reaktortypen in Zukunft Konkurrenz machen soll32. Neben vier Reaktorbauten in China selber werden derzeit zwei Reaktoren vom Typ Hualong in Pakistan gebaut33. Des Weiteren prüfen britische Atombehörden einen Antrag Chinas auf Bau eines Hualong-Reaktors im Vereinigten Königreich am Standort Bradwell (Essex)34. Darüber hinaus bestehen Partnerschaften im Atombereich mit dem Sudan, Kenia, Thailand, Uganda und Kambodscha35. Diese Entwicklungen auf den internationalen Märkten für Atomtechnologien sind von zunehmendem Interesse von industrieökonomischen und auch geopolitischen Analysen36.

Fazit: Ausbaupläne von Newcomer-Ländern vernachlässigbar

Angesichts eines alternden Kraftwerksparks und einer geringen Zahl an Neubauten geht der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Energieversorgung im nächsten Jahrzehnt schrittweise zurück. Aufgrund fehlender Geschäftsmodelle ist der Bau neuer Atomkraftwerke in den westlichen Marktwirtschaften praktisch zum Erliegen gekommen. Auch die in China, Indien und Russland laufenden Neubauten ändern an diesem Trend nichts. Von den aktuell 46 laufenden Bauprojekten sind über die Hälfte verzögert, teilweise erheblich.

Angesichts des Niedergangs der Atomwirtschaft in den meisten westlichen Marktwirtschaften entwickelt die World Nuclear Association ein Narrativ vieler potenzieller Newcomer-Länder, die an der Einführung von Atomkraft arbeiten würden. Derzeit stehen über 30 Länder auf dieser Liste, welche Kooperationsabkommen mit Lieferstaaten abgeschlossen haben. Bei genauerer Betrachtung lassen sich lediglich vier Länder identifizieren, die derzeit erstmals Atomkraftwerke bauen (Bangladesch, Belarus, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate); alle Projekte haben mit erheblichen finanziellen Problemen und Verzögerungen zu kämpfen. Darüber hinaus ist der Status der Einstiegspläne der anderen Länder oftmals unklar oder wenig präzise. Eine große, auch quantitativ relevante Entwicklung ist von dieser Ländergruppe nicht zu erwarten. Eine ökonometrische Analyse ergibt, dass Länder einer geringeren Ausprägung demokratischer Freiheiten eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, zu Atomkraft-Newcomern zu werden. Diese Staaten zeichnen sich durch geringere politische Teilhabe und geringere positive Freiheitsrechte aus.

Die Verschiebung der Angebotsseite von Atomkraftwerken von vormaliger US-Dominanz insbesondere in Richtung Russland kann einen Teil der Einstiegspläne erklären: Nach dem Rückzug westlicher Anbieter betreibt Russland eine offensive Atom-Diplomatie und versucht, seinen geopolitischen Einfluss durch Vertrieb von Atomkraft zu stärken. Hierzu gehören auch sehr günstige Finanzierungsbedingungen für potenzielle Abnehmerländer. Drei der vier derzeit im Bau befindlichen Atomkraftwerke in Neueinstiegs-Ländern beruhen auf russischer Technologie und Finanzierung. Auch China wird zunehmend in der Atom-Diplomatie aktiv, v.a. in Pakistan sowie in jüngerer Zeit auch im Vereinigten Königreich. Die industrieökonomischen und geopolitischen Auswirkungen dieser Entwicklung bedürfen einer detaillierteren Analyse, um ein genaues Bild potenzieller Entwicklungen in diesem strategischen Bereich zu erhalten.

Angesichts fehlender wirtschaftlicher Perspektiven und ungelöster Fragen der Sicherheit, sollten internationale Organisationen wie die IAEO und EURATOM sich neu ausrichten: Anstatt den Einstieg neuer Länder in Atomkraft zu fördern sollte der Fokus auf die Durchsetzung von Sicherheitsstandards sowie ungelöste Fragen des Rückbaus von Atomkraftwerken und der Langfristlagerung für atomare Abfälle gelegt werden. Deutschland sollte sich innerhalb dieser Organisationen dafür einsetzen, dass die institutionelle Subventionierung des Atomeinstiegs (in oftmals politisch instabilen Ländern) aufgegeben wird. Der EURATOM-Vertrag aus dem Jahr 1957 sollte so umstrukturiert werden, dass auch in Europa kein subventionierter Bau von Atomkraftwerken mehr stattfindet. (Claudia Kemfert, DIW)


Anmerkungen

1 Vgl. das Redemanuskript Lewis L. Strauss (1954): Remarks Prepared by Lewis L. Strauss, Chairman, United States Atomic Energy Commission, For Delivery At The Founders’ Day Dinner, On Thursday, September 16, 1954, New York, New York (online verfügbar, abgerufen am 26. Februar 2020. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt.).
2 Vgl. Lucas W. Davis (2012): Prospects for Nuclear Power. Journal of Economic Perspectives 26 (1): 49–66 (online verfügbar); Ben Wealer et al. (2019): Zu teuer und gefährlich: Atomkraft ist keine Option für eine klimafreundliche Energieversorgung. DIW Wochenbericht Nr. 30, 512–520 (online verfügbar); sowie ausführliche Modellrechnungen in Ben Wealer et al. (2019): Economics of Nuclear Power Plant Investment – Monte Carlo Simulations of Generation III/III+ Investment Projects. DIW Discussion Paper Nr. 1833 (online verfügbar).
3 Siehe Mycle Schneider et al. (2019): The World Nuclear Industry Status Report 2019. Paris, Budapest (online verfügbar). Im Rahmen der Energieumwandlung und -anwendung unterscheidet man Primärenergie, Endenergie und Nutzenergie. Primärenergien sind Naturvorkommen, die noch keinerlei Umwandlung unterzogen wurden. Vgl. Konstantin Panos (2013): Praxisbuch Energiewirtschaft. Berlin.
4 Vgl. Mark Z. Jacobson (2019): Evaluation of Nuclear Power as a Proposed Solution to Global Warming, Air Pollution, and Energy Security. Cambridge (online verfügbar).
5 Die bisher 181 vom Netz genommenen Kraftwerke hatten eine durchschnittliche Laufzeit von rund 26 Jahren. Achtzig der 417 am Netz befindlichen Reaktoren weisen, aufgrund von Laufzeitverlängerungen ein Alter von über 40 Jahren auf.
6 Siehe Schneider et al. (2019), a.a.O.
7 Die WNA verlautbart: “About 30 countries are considering, planning or starting nuclear power programmes, and a further 20 or so countries have at some point expressed an interest.” Siehe World Nuclear Association (2020): Emerging Nuclear Countries (online verfügbar).
8 Die Kategorisierung auf der Website der WNA ist hier nicht eindeutig. So werden beispielsweise Katar, Syrien, Albanien und Ruanda gleichzeitig in zwei verschiedenen Kategorien geführt.
9 Falls nicht anders erwähnt beruht diese Übersicht auf Schneider et al. (2019), a.a.O., 175 ff.
10 Die südkoreanische Regierung ist mit 51,1 Prozent Mehrheitsanteilseigner von KEPCO. So gehören der südkoreanischen Regierung direkt 18,2 Prozent der Anteile und indirekt durch die Korea Development Bank 32,9 Prozent der Anteile. Siehe Kepco (2019): Kepco at a glance (online verfügbar).
11 Am 17. Februar 2020 erhielt das Kraftwerk Barkah-1 die Betriebsgenehmigung, siehe Mahmoud Habboush (2020): Arab World’s First Nuclear Reactor Cleared for Startup. Bloomberg vom 17. Februar 2020 (online verfügbar).
12 Vgl. Regierung der VAE (2020) : UAE Energy Strategy 2050 (online verfügbar).
13 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
14 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
15 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
16 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
17 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
18 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
19 Vgl. M.V. Ramana und Ali Ahmad (2016): Wishful thinking and real problems: Small modular reactors, planning constraints, and nuclear power in Jordan. Energy Policy 93 236–245 (online verfügbar).
20 Vgl. World Nuclear Association (2020) : Uzbekistan (online verfügbar).
21 Vgl. World Nuclear Association (2020): Saudi Arabia (online verfügbar). Das Energieprogramm von Saudi-Arabien sieht den Bau von bis zu 16 Reaktoren vor; auch die Entwicklung von Atomwaffen dürfte in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, weshalb die USA (und andere Beobachter auch) die Entwicklung sehr kritisch verfolgen. Vgl. Arms Control Today (2019): U.S. Goals Unclear for Saudi Nuclear Deal (online verfügbar).
22 Vgl. Langdon Winner (1980): Do Artifacts Have Politics? Daedalus 109 (1): 121–136 (online verfügbar).
23 Vgl. Benjamin K. Sovacool und Scott V. Valentine (2010): The socio-political economy of nuclear energy in China and India. Energy 3803–3813 (online verfügbar).
24 Vgl. Sovacool und Valentine (2010), a.a.O. Die Autoren argumentieren, dass zumindest in Frankreich der Einstieg in die Atomkraft durch eine ausgeprägte Beteiligung des Staates an der Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung sowie einer Zentralisierung der nationalen Energieplanung erleichtert wurde. In Schweden (1980), Italien (1987) und der Schweiz (1990) wurde zudem in Volksabstimmungen über die Aufrechterhaltung oder Abschaltung von Atomkraft entschieden. Ein solches Referendum kann allerdings insbesondere dann auch als schwaches Instrument wirken, sofern eine oft nur unzureichend mit den wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen rmationen vertraute oder an ihnen interessierte Öffentlichkeit teilnimmt. Siehe Ji-Bum Chung (2018): Let democracy rule nuclear energy. Nature, 555, 415 (online verfügbar).
25 Konkret umfasst dies den Teil der von der WNA als potentielle Neueinsteiger klassifizierten Länder (Tabelle 1), der ein Kooperationsabkommen für atomare Zusammenarbeit abgeschlossen hat. Zusätzlich kommen Ecuador und Uganda hinzu. Diese Länder haben laut WNA ein Kooperationsabkommen abgeschlossen, sind aber keiner Kategorie zugeordnet.
26 Die empirischen Befunde sind robust gegenüber alternativen Klassifikationen der Länder als potentielle Newcomer. Auch wenn von der WNA nicht klassifizierte Länder, in denen der „Einstieg in die Atomkraft derzeit keine politische Option“ ist, sowie Vietnam und Litauen als „nicht nuklear“ klassifiziert werden, verändern sich die Ergebnisse nicht substantiell.
27 Vgl. Steven E. Miller und Scott D. Sagan (2009): Nuclear Power without Nuclear Proliferation? Daedalus, 138 (4): 7–18 (online verfügbar).
28 Sowohl der vormalige US-Marktführer Westinghouse als auch die französische Framatome (ehemals Areva) kämpfen immer noch ums wirtschaftliche Überleben: Westinghouse ging 2017 in Konkurs, und Framatome (damals Areva) musste vom französischen Staat mit vier bis fünf Milliarden Euro vorläufig gerettet werden. Siehe Martina Drupady (2019): Emerging nuclear vendors in the newcomer export market: strategic considerations. Journal of World Energy Law and Business 12, 4–20 (online verfügbar).
29 Siehe Jessica Jewell, Marta Vetier und Daniel Garcia-Cabrera (2019): The International Technological Nuclear Cooperation Landscape: A New Dataset and Network Analysis. Energy Policy 128, 838–852 (online verfügbar); eine Fallstudie liefert Ned Xoubi (2019): Economic Assessment of Nuclear Electrictiy from VVER-1000 Reactor Deployment in a Developing Country. Energy 175, 14–22 (online verfügbar).
30 Dies sind Tunesien, Marokko, Ghana, Äthiopien, Sudan, Sambia, Venezuela, Bolivien, Paraguay, Myanmar, Indonesien, Laos, Kambodscha, Philippinen, Kasachstan, Usbekistan, Ruanda, Aserbaidschan, Kongo und Kuba. Vgl. World Nuclear Association (2020): Emerging Nuclear Countries (online verfügbar).
31 Vgl. Ben Wealer et al. (2018): Nuclear Power Reactors Worldwide – Technology Developments, Diffusion Patterns, and Country-by-Country Analysis of Implementation (1951–2017). DIW Berlin Data Documentation 93 (online verfügbar).
32 Vgl. Stephen Thomas (2019): Is It the End of the Line for Light Water Reactor Technology or can China and Russia Save the Day? Energy Policy 125, 216–226 (online verfügbar).
33 Vgl. Schneider et al. (2019), a.a.O.
34 Vgl. Adam Vaughan und Lily Kuo (2020): China’s long game to dominate nuclear power relies on the UK. The Guardian online vom 26. Juli (online verfügbar).
35 Vgl. World Nuclear Association (2020): Emerging Nuclear Countries, a.a.O.
36 Vgl. Paul Bracken (2012): The Second Nuclear Age – Strategy, Danger, and the New Power Politics. New York, USA; François Lévêque (2014): The Economics and Uncertainties of Nuclear Power. Cambridge, MA, USA; sowie Christian von Hirschhausen (2017): Nuclear Power in the 21st Century – An Assessment (Part I). DIW Discussion Paper 1700 (online verfügbar).

->Quellen: