DIW: Kernenergie weltweit Auslaufmodell

Ökonometrische Analyse: Potenzielle Newcomer tendenziell durch geringe demokratische Freiheiten gekennzeichnet

Heben sich die Länder, in denen das Thema Atomneubau diskutiert wird, von anderen ab? Politökonomische und andere Ansätze zur Erklärung des Verhaltens von Atomstaaten gibt es schon seit längerer Zeit, etwa in der Techniksoziologie22 oder den Politikwissenschaften23. Stets stechen zentralistische Politikansätze mit einer geringeren Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Entscheidung für Atomkraft im Mittelpunkt. Jedoch ist aktuell im Vergleich zum 20. Jahrhundert ein struktureller Unterschied möglicher Neueinsteiger zu beobachten. So waren in der Vergangenheit zwar einige Staaten, die Atomkraft nutzten oder nutzen, de jure demokratisch verfasst und garantierten de facto ein hohes Maß an Freiheitsrechten für ihre Bevölkerung. Hierzu zählen etwa Frankreich, Finnland oder Deutschland24. Im Gegensatz dazu scheint das Ausmaß an Freiheit und Demokratie bei vielen der aktuellen Interessenten eher gering ausgeprägt. Es liegt daher die Hypothese nahe, dass aufgrund der komplexen und oft kontroversen politischen Entscheidungen, die für die Planung von Atomenergie erforderlich sind, weniger demokratisch verfasste Länder eher in diesen Prozess einsteigen. Darüber hinaus ist ein politökonomisches Argument, dass vor allem Länder sich mit der ökonomisch unwirtschaftlichen Atomkraft beschäftigen werden, in denen es keine kritische öffentlichen und parlamentarischen Debatten hierzu gibt.

In einer empirischen Analyse wird daher im Folgenden der mögliche Zusammenhang zwischen Einstiegsplänen in die Atomkraft und dem Ausmaß an demokratischer Freiheit untersucht. Die Analyse beruht auf einem Querschnittsdatensatz von 177 Ländern. Für die gewählte Atomstrategie eines Landes im Jahr 2017 werden drei Kategorien definiert. Sofern ein Land mindestens einen Reaktor zur Atomstromerzeugung verwendet, wird dieses Land als „nuklear“ klassifiziert. Die zweite Kategorie umfasst die Gruppe der „potenziellen Newcomer“-Länder, welche mindestens ein Abkommen über nukleare Zusammenarbeit abgeschlossen haben. Basierend auf den Angaben der WNA werden insgesamt 37 potenzielle Neueinsteiger identifiziert, einschließlich Belarus, Bangladesch, der Türkei und der Vereinigten Arabischen Emirate, wo bereits Atomreaktoren gebaut werden25. Länder, in denen kein Atomkraftwerk in Betrieb, im Bau oder in Planung ist, werden als „nicht nuklear“ klassifiziert. Diese drei Kategorien stellen im weiteren Verlauf der Analyse die zu erklärende Zielgröße dar (Kasten).

Zur ökonometrischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Ausmaß der demokratischen Freiheit eines Landes und dem Status der Nutzung der Atomenergie wird ein multinomiales logistisches Regressionsmodel verwendet. Die Datengrundlage ist ein Querschnittsdatensatz bestehend aus 177 Ländern für das Jahr 2017. Die gewählte Atomstrategie eines Landes im Jahr 2017 wird durch eine kategoriale Variable mit drei Ausprägungen beschrieben, die durch eine Reihe von Einflussfaktoren erklärt wird.

Die Kategorien der Atomstrategie werden mit Daten der Power Reactor rmation System-Datenbank (PRIS) der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sowie rmationen der World Nuclear Association (WNA) konstruiert. Die erste Kategorie identifiziert die Strategie „nuklear“, sofern ein Land mindestens einen betriebsbereiten Reaktor zur Atomstromerzeugung verwendet. Dies sind 31 Länder. Die zweite Kategorie identifiziert die Gruppe „potenzielle Newcomer“. In diese Gruppe wird ein Land eingeordnet, sofern es laut den Angaben der WNA mindestens ein internationales Abkommen über Zusammenarbeit in der Atomwirtschaft abgeschlossen hat. Diese Gruppe umfasst 37 Länder, einschließlich Belarus, Bangladesch, der Türkei und der Vereinigten Arabischen Emirate, wo bereits Atomreaktoren im Bau sind. Die dritte Kategorie identifiziert ein Land als „nicht nuklear“, falls dort weder ein Atomkraftwerk in Betrieb noch in Bau oder Planung ist. Dies sind 109 Länder.

Der in der vorliegenden Studie verwendete Indikator zur Messung des Ausmaßes an demokratischer Freiheit basiert auf einer etablierten Beurteilung der Demokratiequalität für 194 Länder von Freedom House, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Washington D.C. Der Indikator berücksichtigt sowohl politische Rechte als auch bürgerliche Freiheiten. Die beiden Teil-Indikatoren werden dabei auf einer Skala von eins bis sieben gemessen, wobei niedrigere Ausprägungen höhere Rechte bzw. Freiheiten erfassen.

In Ländern, die mit der Note eins in Bezug auf politische Rechte bewertet wurden, genießen BürgerInnen ein breites Spektrum an politischen Rechten, einschließlich freier und fairer Wahlen. Die gewählten KandidatInnen regieren tatsächlich, es herrscht aktiver Wettbewerb zwischen politischen Parteien, die Opposition spielt eine relevante Rolle und die Interessen von Minderheitengruppen sind in Politik und Regierung vertreten.

In Ländern, die mit der Note eins in Bezug auf bürgerlichen Freiheiten bewertet wurden, genießen BürgerInnen ein breites Spektrum an bürgerlichen Freiheiten, einschließlich der Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Bildungs- und Religionsfreiheit. Diese Länder verfügen über ein etabliertes und faires Rechtssystem, das die Rechtsstaatlichkeit (einschließlich einer unabhängigen Justiz) gewährleistet, freie wirtschaftliche Aktivitäten ermöglicht und sich um Chancengleichheit für alle bemüht.

Für die vorliegende Analyse wird ein aggregierter Indikator verwendet, der zwischen null (keine politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten) und eins (vollständige politische Rechte und bürgerliche Freiheiten) normalisiert ist. Hierzu wird vom Wert 14, also dem maximal möglichen Wert aus der Summierung beider Teil-Indikatoren, zunächst die Summe aus der von Freedom House tatsächlich vorgenommenen Benotung der beiden Teil-Indikatoren subtrahiert, und das Ergebnis anschließend durch zwölf geteilt.

Für die Untersuchung werden in der Schätzgleichung weitere Einflussgrößen auf die gewählte Atomstrategie eines Landes aus den Bereichen Entwicklung, Energie und Umwelt berücksichtigt, die in Literatur als relevant identifiziert worden sind. Dies sind das BIP pro Kopf, der Anteil der in städtischen Gebieten lebenden Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung, der Primärenergieverbrauch, die Einnahmen durch den Abbau von fossilen Rohstoffen als Anteil am BIP, CO2-Emissionen sowie der Anteil der erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch. Um historische Verbindungen zwischen Russland, als wichtiges Anbieterland von Atomtechnologie, und potenziellen Neueinsteigern zu erfassen, enthält die Schätzung zudem eine Dummy-Variable. Diese nimmt den Wert eins an für alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie alle Länder, die ehemals im Warschauer Pakt zusammengeschlossen waren.

Für die Schätzung wird eine multinomiale logistischen Regression verwendet. Dieses ökonometrische Verfahren ermittelt den Einfluss des Ausmaßes an demokratischen Freiheiten sowie aller anderen Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, in eine der drei Kategorien „nicht nuklear“, „potenzieller Newcomer“ oder „nuklear“ zu fallen. Hierbei wird nicht nuklear als Referenzkategorie festgelegt. Konkret beschreiben die geschätzten Parameter des Modells das logarithmierte Wahrscheinlichkeitsverhältnis, in die jeweilige Kategorie im Vergleich zur Referenzkategorie zu fallen. Die Parameterschätzungen erfolgen mit der Maximum-Likelihood Methode. Es wird also derjenige Parameterwert bestimmt, für den die gegebenen Daten am wahrscheinlichsten realisiert würden. Wegen der kategorialen Zielvariablen werden zwei Regressionsgleichungen geschätzt: Eine bewertet die Strategie „nuklear“ gegenüber „nicht nuklear“; eine zweite bewertet die Strategie „potenzieller Newcomer“ gegenüber „nicht nuklear“.

Der geschätzte Koeffizient für die Variable „Ausmaß der demokratischen Freiheit“ ist statistisch signifikant auf dem Ein-Prozent-Niveau und kleiner als eins. Gegeben, die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen dem Ausmaß demokratischer Freiheiten und der Atomstrategie eines Landes trifft zu, ist das Schätzergebnis nur mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent durch Zufall zu erklären. Die Ergebnisse legen nahe, dass ein Land, welches ein höheres Ausmaß an demokratischer Freiheit ausweist, wahrscheinlicher in der Gruppe der Länder ohne Pläne für Atomkraft zu verorten ist als in die Gruppe der potenziellen Atomkraft-Newcomer. Wie bei dem verwendeten Verfahren üblich, können die geschätzten Parameterwerte in prognostizierte Wahrscheinlichkeiten für die Zugeörigkeit zur Kategorie der potenziellen Newcomer überführt werden.

Der verwendete Indikator zur Erfassung des Ausmaßes der demokratischen Freiheit in einem Land basiert auf einer Beurteilung von Freedom House. Für die vorliegende Analyse wird ein aggregierter Indikator verwendet, der zwischen null und eins normalisiert wurde. Ein Wert von null entspricht dabei dem geringsten Ausmaß an demokratischer Freiheit (keine politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten), wohingegen ein Wert von eins das größte Ausmaß an demokratischer Freiheit (vollständige politische Rechte und bürgerliche Freiheiten) anzeigt (Kasten). Neben dem Ausmaß der demokratischen Freiheit enthält die ökonometrische Analyse eine Reihe weiterer Variablen, welche die Atomstrategie eines Landes erklären, wie zum Beispiel die CO2-Emissionen, die Urbanisierung oder das BIP pro Kopf. Das ökonometrische Modell schätzt, wie stark die einzelnen Einflussfaktoren mit der Wahrscheinlichkeit korrelieren, dass ein Land als potenzieller Newcomer in Bezug auf Atomkraft klassifiziert wird.

Die Ergebnisse der ökonometrischen Berechnung legen nahe, dass ein Land sich umso wahrscheinlicher in die Gruppe der potenziellen Atomkraft-Newcomer eingeordnet wird, je geringer das Ausmaß der demokratischen Freiheiten ist (Abbildung 3). Für Länder mit einem hohen Ausmaß demokratischer Freiheiten ist es hingegen weniger wahrscheinlich, dass diese als potenziellen Neueinsteiger-Länder klassifiziert sind26.

Die vorliegenden Ergebnisse schließen auch an bestehende Befunde aus der Literatur an. Eine Studie aus dem Jahr 2009 benennt 50 Länder, welche die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) um technische Unterstützung gebeten haben, die Möglichkeit der Entwicklung eigener Atomenergieprogramme zu prüfen. Bei Betrachtung von Indikatoren für Korruption, politische Stabilität, Wirksamkeit des Regierungshandelns und Regulierungsqualität sowie eines aggegierten Maßes für die Qualität der demokratischen Institutionen weisen auch hier die 50 identifizierten Länder im Durchschnitt für jeden Indikator einen niedrigeren Wert auf als die Gruppe der bestehenden Atomkraftstaaten27.

Folgt: Weltweites AKW-Angebot bedarf genauerer Analyse