SRU fordert Budgetierung – Deutschland muss 2038 CO2-neutral sein, nicht erst 2050

SRU-Gutachten 2020: „Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa“

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen veröffentlichte am 14.05.2020 sein 556-seitiges Umweltgutachten 2020 mit dem Titel „Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa“ und erörterte es in einer Videokonferenz mit Bundesumweltministerin Svenja Schulze. Hauptforderung: Deutschland muss viel früher CO2-neutral sein, nämlich 2038, nicht 2050. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie verlören Klimawandel und Biodiversitätsverlust zwar aktuell an Aufmerksamkeit. Die langfristige Bedrohung der ökologischen Lebensgrundlagen bleibe aber bestehen.

Virtuelle Präsentation des Umwelt-Gutachtens 2020 – © SRU

Mit dem Umweltgutachten 2020 legen die Ratsmitglieder die letzte Veröffentlichung des amtierenden Sachverständigenrats vor; die aktuelle Ratsperiode endet zum 30. Juni 2020.

Um den Klimawandel zu bremsen, ist es laut SRU unerlässlich, die Gesamtmenge an CO2 zu begrenzen, die noch ausgestoßen wird. Diese entscheidet maßgeblich über das Ausmaß der Erwärmung. Der SRU empfiehlt der Bundesregierung deshalb, ihre Klimapolitik an einem langfristigen CO2-Budget auszurichten, das im Einklang mit den Temperaturzielen von Paris steht. Prof. Wolfgang Lucht erläutert: „Ein ausreichendes, faires und angemessenes deutsches CO2-Budget beträgt maximal 6,7 Milliarden Tonnen CO2 ab 2020. Bei linearer Reduktion muss Deutschland schon 2038 CO2-neutral sein, nicht erst 2050.“ Entschlossene Klimaschutzmaßnahmen sind daher dringend erforderlich. [Andere Quellen, z.B. das MCC, sprechen bereits von 3 Gt (= 3 Milliarden Tonnen) CO2 – siehe  https://www.mcc-berlin.net/en/research/co2-budget.html , wenn die 1,5-Grad-Grenze nicht überschritten werden soll. Siehe auch: agentur-zukunft.eu/vollstaendige-dekarbonisierung-budgetorientiert]

Insgesamt greift der SRU in seinem Umweltgutachten 2020 umweltpolitische Themenfelder auf, in denen großer Handlungsbedarf besteht, aber auch ein Umsteuern mit zielgerichteten Maßnahmen möglich ist:

  • Pariser Klimaziele erreichen mit dem CO2-Budget
  • Kreislaufwirtschaft: Von der Rhetorik zur Praxis
  • Wasserrahmenrichtlinie für die ökologische Gewässerentwicklung nutzen
  • Weniger Verkehrslärm für mehr Gesundheit und Lebensqualität
  • Aktive und umweltfreundliche Stadtmobilität: Wandel ermöglichen
  • Das Quartier: Raum für mehr Umwelt- und Klimaschutz
  • Zukunft der europäischen Umweltpolitik

Die aktuelle Krise zeigt zudem eine ungeahnte Verletzlichkeit unseres Lebens und Wirtschaftens auf. So unterschiedlich die beiden Krisen sind, gemeinsam ist ihnen, dass sie nur durch gemeinsames und entschlossenes Handeln überwunden werden können. Die jetzt notwendige Wiederbelebung der Wirtschaft sollte genutzt werden, neue Wege zu gehen. „Großangelegte Konjunkturprogramme müssen ökologisch zukunftsfähig sein“, sagt die SRU-Vorsitzende Prof. Claudia Hornberg. „Es sollte in Lösungen investiert werden, die die umweltverträgliche Entwicklung der Wirtschaft fördern.“ Die Bundesregierung sollte sich dafür stark machen, dass auch die EU-Konjunkturprogramme darauf ausgerichtet sind, den European Green Deal zu verwirklichen.

Für Deutschland wie für die EU gilt: Die Politik muss unter Beweis stellen, dass sie angesichts der enormen ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen handlungsfähig ist. „Die EU steht mit Blick auf die planetaren Grenzen gerade im Klimaschutz vor großen Herausforderungen. Daher muss die Umweltpolitik im Rahmen des European Green Deal sichtbarer Bestandteil der europäischen Wirtschafts-, Verkehrs- und Agrarpolitik sein. Zugleich müssen für Umsetzung und Monitoring verbindliche Vorgaben gemacht werden“, hob Prof. Christian Calliess hervor. Auch bislang nicht ökologisch ausgerichtete Wirtschaftsbereiche wie die Landwirtschaft und der Verkehr müssen jetzt Umwelt- und Klimaschutz in den Vordergrund stellen. Der SRU schlägt deshalb in verschiedenen Schlüsselbereichen Veränderungen vor.

Seit Jahren sprechen wir davon, auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft zu sein. Die Zahlen zeigen aber: Deutschland nutzt nach wie vor zu viele Rohstoffe und verursacht damit gravierende Umweltbelastungen. „Stoffströme müssen verringert und es muss eine konsequente Produktpolitik implementiert werden, damit mehr Rohstoffe im Kreislauf geführt werden können“, stellte Prof. Vera Susanne Rotter heraus. „Es ist wichtig, dass Produkte langlebig, reparaturfreundlich, recyclinggerecht und schadstofffrei sind.“ Der SRU empfiehlt, die Abfallhierarchie zu einer Kreislaufwirtschaftshierarchie weiterzuentwickeln, um diese Aspekte zu verankern. Konkret sollte z. B. die Ökodesign-Richtlinie auf weitere Produktgruppen ausgedehnt werden. Recycling ist nicht nur an Quoten, sondern auch an seiner Qualität zu messen.

Intakte Gewässer sind die Voraussetzung für funktionierende Ökosysteme, Artenvielfalt sowie lebendige Landschaften und spielen eine wichtige Rolle bei der Klimaanpassung. Europäisch vereinbarte Gewässerschutzziele werden flächendeckend verfehlt. Prof. Manfred Niekisch betont: „Für die Renaturierung der Flüsse müssen mehr Flächen an den Gewässern bereitgestellt werden.“ Außerdem erfordert die Umsetzung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie eine verbindliche Planung sowie ausreichend Gelder und Fachpersonal.

Viele Menschen in Deutschland sind hohen Belastungen durch den Verkehrslärm ausgesetzt. „Diese Lärmbelastungen stellen ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar“, erläutert Prof. Hornberg. Sie treffen sozial Benachteiligte häufiger als andere. Um den Schutz vor Verkehrslärm zu verbessern, empfiehlt der SRU bundesweit festzulegen, ab welcher Lärmbelastung Kommunen verpflichtet werden, Lärmschutzpläne aufzustellen. Außerdem sollten die gesundheitsbezogenen Lärmschwellen in Deutschland deutlich verschärft und die europäischen Emissionsgrenzwerte für Fahrzeuggeräusche anspruchsvoll ausgestaltet werden.

Der Stadtverkehr wird seit Jahrzehnten vom Auto dominiert. Die Folgen sind Lärm, Luftverschmutzung, ein wachsender Flächen- und Energieverbrauch sowie hohe Gesundheits- und Umweltkosten. ÖPNV, Fuß- und Radverkehr sollten nach Auffassung des SRU stark ausgebaut werden. Die Novelle der StVO ist für ein Umsteuern noch nicht ausreichend und muss nachgebessert werden. „Eine konsequente Parkraumbewirtschaftung und eine streckenabhängige Pkw-Maut sollten dazu beitragen, einer aktiven und umweltfreundlichen Mobilität in der Stadt Raum zu geben“, sagte Prof. Claudia Kemfert.

Der SRU empfiehlt, Quartiere als geeignete Handlungsebene für die Umwelt- und Klimapolitik stärker zu nutzen. Quartiersbezogene Maßnahmen bergen Potenziale für den Umwelt- und Klimaschutz und ermöglichen Synergien mit anderen Zielen. Sie sind der Betrachtung von Einzelgebäuden überlegen. Hierzu zählen die Versorgung durch Wärmenetze, serielle energetische Sanierung und die lokale Erzeugung erneuerbarer Energien.
„Um die städtische Energiewende voranzubringen, sollte die Eigenversorgung mit Strom und Wärme künftig gesetzlich vereinfacht und die gemeinsame Erzeugung sowie nachbarschaftliche Versorgung mit Energie erleichtert werden. Diese Aspekte sollten in das Gebäudeenergiegesetz Eingang finden“, betonte Prof. Lamia Messari-Becker.

Der wirtschaftliche Neustart nach der Corona-Pandemie sollte dazu genutzt werden, die Weichen in Richtung ökologischer Transformation zu stellen. Die enormen Mittel, die für die konjunkturelle Wiederbelebung eingesetzt werden, müssen konsequent an den Zielen der Klimaneutralität und des Umweltschutzes ausgerichtet werden.

Reaktionen

Schulze: Neues Umweltgutachten des SRU liefert gute Argumente für ökologisch-sozialen Weg aus der Krise

Bundesumweltministerin Svenja Schulze bekam das Umweltgutachten von der SRU-Vorsitzenden Hornberg im Rahmen einer Videokonferenz symbolisch überreicht: „Die Corona-Pandemie hat uns in den letzten Wochen vor Augen geführt: Wissenschaftliche Unterstützung und Beratung sind unverzichtbar für unsere Politik. Dafür stehen der Bundesregierung Expertengremien wie der Sachverständigenrat für Umweltfragen zur Seite, und wir sind gut beraten, die wissenschaftliche Expertise nicht nur in Fragen des Gesundheitsschutzes, sondern in allen zentralen Politikbereichen bestmöglich zu nutzen. Das Umweltgutachten des SRU unterstützt den nun notwendigen nachhaltigen Neustart der Wirtschaft („Green Recovery“) mit guten Argumenten. Jetzt kommt es darauf an, durch gemeinsames und entschlossenes Handeln unsere Wirtschaft und Gesellschaft krisenfester, solidarischer und umweltverträglicher zu gestalten.“

Der 1971 von der Bundesregierung eingerichtete SRU hat den Auftrag, die Umweltsituation in Deutschland zu bewerten und Handlungsempfehlungen zu aktuellen Fragen der Umweltpolitik zu geben. Er übergibt dem Bundesumweltministerium alle vier Jahre ein umweltpolitisches Gesamtgutachten und erarbeitet darüber hinaus Sondergutachten, Stellungnahmen und Offene Briefe.

Greenpeace: Nicht ausreichend

Die Klimapolitik der Bundesregierung reicht bei weitem nicht, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, zeige das heute veröffentlichte Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) – so Greenpeace in einer Medienmitteilung. Die Berater der Regierung kritisieren darin insbesondere fehlende Maßnahmen im Verkehr. Zur Besserung schlägt der Rat vor, Rad- und Fußverkehr in Städten zu fördern und parallel Autofahren durch eine bundesweite, streckenbezogene Maut oder höhere Parkgebühren unattraktiver zu machen.

Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Stephan: „Der Verkehr ist noch immer das größte Sorgenkind im Klimaschutz. Kaufprämien für weitere Diesel und Benziner, wie die Autoindustrie sie sich wünscht, würden das Problem vergrößern. Das Gutachten ist unmissverständlich: Damit die Bundesregierung beim Klimaschutz im Verkehr vorankommt, muss sie die Alternativen zum eigenen Auto stärken, in attraktive Rad- und Fußwege investieren und bundesweit dem Autoverkehr mit einer Streckenmaut einen ehrlicheren Preis geben. Der SRU gibt einen klaren Auftrag zu einer tatsächlichen Verkehrswende weg vom Auto, hin zu sauberen Alternativen.“

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