Alte Kontroverse, neu aufgelegt: Kernenergie gegen Klimakrise?

Minimale CO2-Einsparung

Während sich die meisten Politiker heute einig sind, dass eine Begrenzung der CO2-Emissionen notwendig ist, um den Klimawandel aufzuhalten, besteht keine Einigkeit darüber, wie dieses Ziel erreicht werden kann. In vielen Ländern spielt die Kernenergie nach wie vor eine wichtige Rolle bei der kohlenstoffarmen Stromerzeugung. Sie ist jedoch zunehmend zu einem Diskussionsthema geworden, und viele Länder haben beschlossen, aus der Kernenergie auszusteigen, nicht zuletzt aufgrund vergangener nuklearer Notfälle wie Fukushima. Eine in Energy Policy open access publizierte wissenschaftliche Untersuchung von Nikolaus Müllner, Nikolaus Arnold, Klaus Gufler und anderen hat dazu beigetragen, das Treibhausgas-Vermeidungspotenzial der Kernkraft zu ermitteln: Nur verschwindende 2-3 % des CO2 kann die Kernenergie vermeiden helfen.

AKW Cruas an der Rhone, Frankreich – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Angesichts der angekündigten Pläne für neue AKW und Laufzeitverlängerungen älterer würde dieser Wert bis 2040 noch weiter sinken. Darüber hinaus werde ein wesentlicher Ausbau der Kernenergie aufgrund technischer Hindernisse und begrenzter Ressourcen nicht möglich sein. Die begrenzten Uran-235-Vorräte verhindern wesentliche Ausbauszenarien mit der derzeitigen Kerntechnik. Neue Nukleartechnologien, die auf Uran-238 zurückgreifen, werden nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen. Selbst wenn solche Ausbauszenarien möglich wären, würde ihr Potenzial zur Eindämmung des Klimawandels als Einzelmaßnahme nicht ausreichen. Dieser Artikel liefert daher ein gewichtiges wissenschaftliches Argument für den Ausstieg aus der Kernenergie und die Konzentration aller Anstrengungen auf den Übergang zu 100% erneuerbaren Energien.

Ausschnitte

„Wir schätzen eine Obergrenze des CO2-Einsparungspotenzials verschiedener Wachstumsszenarien für die Kernenergie, angefangen bei unserer Projektion der Kernenergieerzeugungskapazität auf der Grundlage der aktuellen nationalen Energiepläne bis hin zu Szenarien, die die Kernenergie als wesentliches Instrument für den Klimaschutz einführen. Anschließend betrachten wir die benötigten Uranressourcen.

Das wichtigste Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist, dass der Beitrag der Kernenergie zur Abschwächung des Klimawandels sehr begrenzt ist und auch in Zukunft sein wird. CO2-neutrale, erneuerbare und kohlenstoffarme Energieträger müssen die derzeit vorherrschenden fossilen Energieträger ersetzen und zusätzliche CO2-Emissionen so weit und so schnell wie möglich begrenzen.

Die Kernenergie als Option für den Klimaschutz wurde bereits im Jahr 2000 vorgeschlagen, aber die Debatte geht seitdem weiter. Kürzlich schrieben Wissenschaftler Briefe an Zeitungen und Staatsoberhäupter, in denen sie die Nutzung der Kernenergie unterstützen oder vor ihr warnen. Aber auch in Artikeln in wissenschaftlichen Fachzeitschriften herrscht Uneinigkeit darüber, welche Rolle die Kernenergie in einer kohlenstoffarmen Zukunft spielen sollte. Einige Autoren bezweifeln, dass es sich bei der Kernenergie um eine kohlenstoffarme Technologie handelt und plädieren daher strikt für eine nicht-nukleare Zukunft. Andere Autoren schätzen, dass die Kernenergie in einer kohlenstoffarmen Zukunft mit dem Zehnfachen der derzeit installierten Kapazität bis 2050 das Rückgrat der Stromerzeugung sein könnte oder zumindest alle Kohlekraftwerke ersetzen könnte. Andere wiederum plädieren dafür, zumindest die derzeitige Kernkraftwerksflotte in Betrieb zu halten, auch wenn dies die Zahlung von Subventionen bedeutet. In einer aktuellen Studie beschreiben Buongiorno et al. das Potenzial der Kernenergie als kohlenstoffarme Technologie, sehen aber die Kostensenkung als Haupthindernis. Parsons et al. (2019) sehen die Kernenergie als wesentlich für die Erreichung der Klimaziele und des Pariser Abkommens. Die Kernenergie wird dort als „eine kohlenstoffarme Dispatch-Option, die praktisch unbegrenzt und jetzt verfügbar ist“ beschrieben. Auch die IAEA hat 2018 einen Bericht über viele Aspekte der Kernenergie als Klimaschutztechnologie veröffentlicht. Zum zukünftigen Beitrag der Kernenergie zum Klimaschutz beschreibt der Bericht eine Vielzahl von Szenarien, von Ausstiegs- bis zu Ausbauszenarien mit entsprechend sehr unterschiedlichen Beiträgen. Allerdings scheinen groß angelegte nationale Atomprogramme nicht zu einer signifikanten Senkung der Kohlenstoffemissionen zu führen, wie Sovacool et al. 2020 zeigten, indem sie die CO2-Emissionen und die Stromerzeugung von 123 Ländern über 25 Jahre miteinander in Beziehung setzen.

Die direkten CO2-Emissionen von Kernkraftwerken während des Betriebs sind gering. Betrachtet man jedoch auch die indirekten Emissionen und berücksichtigt den gesamten Lebenszyklus der Kernenergie (Uranabbau, -vermahlung, -umwandlung, -anreicherung, Brennstoffherstellung, Bau und Rückbau des Kernkraftwerks, Verarbeitung und Lagerung abgebrannter Brennelemente), so ist die Kernenergie sicherlich nicht emissionsfrei. In einem Übersichtsartikel, der die Schätzungen der CO2-Emissionen aus Analysen des Kernbrennstoffkreislaufs zusammenfasst, werden Werte von 1,4 bis zu 288 g CO2/kWhe genannt, wobei der Mittelwert aller untersuchten Studien bei 66g CO2/kWhe liegt. Die große Spanne bei den CO2-Emissionen pro kWh ist auf die unterschiedlichen Uranerzgehalte, die verschiedenen Methoden und Techniken, die beim Abbau, der Vermahlung, der Anreicherung und der Brennstoffherstellung eingesetzt werden, sowie auf die unterschiedlichen, bei Abbau und Anreicherung verwendeten Energiequellen zurückzuführen. Eine ähnliche Arbeit von Beerten et al. (2009) meldete 32g CO2/kWhe für einen europäischen Kontext.

Die CO2-Emissionen aus dem Lebenszyklus der Kernenergie hängen mit den Energieinvestitionen zusammen, die für den Abbau und die Herstellung der Brennstoffe erforderlich sind. Ein anderer Ansatz sollte hier erwähnt werden: Anstatt die CO2-Emissionen zu betrachten, haben Wallner et al. (2011) die Rentabilität der Kernenergie untersucht, die zeigt, dass nur ein Bruchteil der Uranressourcen physikalisch sinnvoll genutzt werden kann. Die Nutzung der Kernenergie ist nur dann sinnvoll, wenn mehr Energie erzeugt werden kann, als für Abbau und Anreicherung benötigt wird. Wallner et al. haben gezeigt, dass diese Energiebilanz bei niedriggradigen Erzen negativ ausfällt. Es ist jedoch anzumerken, dass solche Schätzungen mit Unsicherheiten behaftet sind und von Annahmen und verwendeten Technologien abhängen.

Schlussfolgerungen und politische Implikationen

Der vom Menschen verursachte Klimawandel erfordert eine rasche Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft, wenn der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur unter 2? C oder vorzugsweise unter 1,5° C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau gehalten werden soll. Bis 2050 soll die Wirtschaft CO2-neutral sein, daher sind kurz- bis mittelfristig Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels erforderlich. Eine solche Umstellung würde das derzeit zu einem großen Teil auf fossilen Brennstoffen basierende Energie- (und Strom-) Versorgungssystem stark beeinflussen.

Das wichtigste Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist, dass der Beitrag der Kernenergie zur Abschwächung des Klimawandels sehr begrenzt ist und bleibt. Nach den derzeitigen Planungen würde die Kernenergie in den Jahren 2020-2040 höchstens jährlich 2-3 % der gesamten globalen Treibhausgasemissionen vermeiden. Darüber hinaus kann die Kernenergie nicht so ausgebaut werden, dass sie zur Hauptquelle der künftigen Stromerzeugung wird. Ausbauszenarien erfordern eine Ausweitung des Uranabbaus, dem zwei Grenzen gesetzt sind: Die Uranproduktion könnte in der Ausbauphase kaum Schritt halten, und die Gesamtmenge des verfügbaren Urans ist begrenzt. Bei solchen Szenarien würden neue Kernkraftwerke während ihrer geplanten Laufzeit ohne Brennstoff dastehen. Schnelle Brutreaktoren versprechen eine Lösung für das Problem der begrenzten Uran-235-Ressourcen, werden aber nicht vor 2040-2050 für den kommerziellen Einsatz zur Verfügung stehen. Und angesichts der beträchtlichen Forschungsanstrengungen und -zeiten ist es sogar zweifelhaft, ob ein kommerziell einsetzbarer schneller Brutreaktor dann zur Verfügung stehen wird. Aber selbst unter der Annahme, dass ein solches Szenario realisierbar wäre, würden selbst bei einer Substitution aller fossil befeuerten Kraftwerke durch Kernkraftwerke immer noch ca. 70 % der für 2040 prognostizierten globalen Treibhausgasemissionen aus anderen Sektoren übrig und würde immer noch drastische Maßnahmen erfordern, um alle Emissionen auf Null zu reduzieren.

Die offiziell bekannt gegebenen Pläne enthalten keine Hinweise auf Erweiterungsszenarien. Sie zielen darauf ab, die Kapazität stillgelegter Anlagen durch Neubauten zu ersetzen, möglicherweise in Kombination mit einer Verlängerung der Lebensdauer der derzeit in Betrieb befindlichen Reaktoren. Vergleicht man die bisherigen Prognosen mit den tatsächlichen Neubauraten und berücksichtigt man die Merkmale der Kernenergie (lange Entwicklungszeiten, lange Planungs- und Bauzeiten, begrenzte Uran-235-Ressourcen der derzeitigen Reaktortechnologie), so könnte die Beibehaltung der derzeitigen Kernkraftkapazität in den nächsten Jahren die Obergrenze für die Nutzung der Kernenergie darstellen.

Allerdings bergen die derzeitigen Kernreaktoren, so sicher sie auch sein mögen, immer ein Restrisiko für schwere, katastrophale Unfälle und große Freisetzungen radioaktiver Stoffe. Mit neuen Reaktoren wird versucht, das Restrisiko zu verringern, aber auch mit den derzeit vorgesehenen Zukunftstechnologien kann eine nukleare Katastrophe nicht völlig ausgeschlossen werden. Der Hauptbeitrag zur derzeitigen nuklearen Stromerzeugung stammt von Reaktoren, die zwischen 1970 und 1990 gebaut und zwischen 1960 und 1980 konzipiert wurden. Neue Reaktortechnologien versprechen, dass das Risiko für schwere Unfälle um das Zehnfache reduziert wird. Nach den derzeitigen Plänen wird jedoch der größte Teil der künftigen Stromerzeugungskapazität aus der Verlängerung der Betriebsdauer bestehender Anlagen und nur ein geringer Teil aus Neubauten stammen (im Jahr 2040 ca. 30 % Neubauten, ca. 70% der derzeit in Betrieb befindlichen Reaktoren mit verlängerter Laufzeit und/oder im Langzeitbetrieb nach der ISR-Projektion).

Angesichts des bescheidenen Beitrags der Kernenergie zur Eindämmung des Klimawandels ist eine andere Option denkbar, nämlich der Ausstieg aus der Kernenergie. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den wesentlichen Erkenntnissen einer umfassenden globalen Energiestudie des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA, 2012). In dieser Studie wurde ein normativer Ansatz gewählt, d. h. ein Szenario, bei dem sich die Gesellschaft bis 2050 auf einem Klimapfad befindet, um das 2°-Ziel zu erreichen und gleichzeitig allen Menschen Zugang zu modernen Energiedienstleistungen zu bieten. Ausgehend von dem Ziel einer nachhaltigen, CO2-neutralen Wirtschaft, rechnet das IIASA zurück und untersucht, welche Energiepfade in eine solche Zukunft führen. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Analyse zeigt, dass keine der untersuchten Randbedingungen die Nutzung der Kernenergie erforderlich macht. Selbst bei Annahmen eines hohen Energiebedarfs ohne wesentliche Änderungen im Transportsystem können andere Energiequellen die Kernenergie ersetzen.

Der derzeitige Beitrag der Kernenergie zur Abschwächung des Klimawandels ist gering und wird nach den derzeitigen Planungen in naher bis mittlerer Zukunft auf diesem Niveau bleiben. Strategien zum Ausbau der Kernenergie sind aufgrund der begrenzten Ressourcen nicht durchführbar. Neue Nukleartechnologien ohne diese Einschränkungen werden aufgrund der langen Forschungs-, Genehmigungs-, Planungs- und Bauzeiten der Nuklearindustrie im kritischen Zeitrahmen von 2020 bis 2050 nicht zur Verfügung stehen. Nach den derzeitigen Plänen soll die Kernkraftkapazität in etwa auf dem derzeitigen Stand gehalten werden, vor allem durch Laufzeitverlängerungen für bestehende Reaktoren. Angesichts des begrenzten Beitrags zum Klimaschutz ist aber auch ein vollständiger Ausstieg eine machbare Option. Die Gesellschaft muss angesichts der Nachteile entscheiden.

->Quelle: Nikolaus Arnold, Klaus Gufler, Wolfgang Kromp, Wolfgang Renneberg, Wolfgang Liebert: Nuclear energy – The solution to climate change? in: Energy Policy, https://doi.org/10.1016/j.enpol.2021.112363