Klima, Krieg und Flucht

Als hätten wir es nicht gewusst
Blutzoll der fossilen Energieträger
Jede Sekunde flieht ein Mensch vor Klimafolgen

von Gerhard Hofmann

Nachdem die Fotografin Nilüfer Demir am 02.09.2015 die Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum entdeckt hatte, sagte sie später, „gefror mir das Blut in den Adern. Das Einzige, was ich tun konnte, war, seinem Schrei – dem Schrei seines am Boden liegenden Körpers – Gehör zu verschaffen. Ich dachte, das könnte ich nur schaffen, indem ich den Abzug betätigte.“ Jedes Weltereignis produziert Symbolfotos, wie etwa der Anschlag auf das World Trade Center oder der Vietnamkrieg: Der vietnamesisch-amerikanische Fotograf Nick Ut  bekam den Pulitzer-Preis und den World Press Award für sein Foto „The Terror of War“ der neunjährigen Phan Kim Phuc, die 1972 schwer verbrannt, nackt und schreiend vor einem US-Napalm-Angriff floh – das Bild trug mehr zum Ende des Krieges bei als manche Politiker-Rede.

Das Foto des kleinen Aylan machte die Flüchtlingskrise auf brutale Weise sichtbar – und das Versagen Europas. Aylans Schicksal erinnerte daran, dass Millionen von Kindern auf der Flucht sind: Laut UNICEF ist von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit jeder zweite unter 18 – auch von den vier Millionen syrischen Flüchtlingen. Viele wollen nach Europa – wir aber verschanzen uns hinter meterhohem Stacheldraht, damit das Elend der Welt draußen vor bleibt. Wenige reiche Länder schließen die Augen davor, dass die Menschen vor Krieg und Elend fliehen. Und dann sortieren wir zynischerweise noch zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Dabei müsste es für uns doch völlig gleichgültig sein, ob ein Mensch vor dem Tod durch Verhungern oder eine Fassbombe flieht.

Wir wussten es seit Jahrzehnten – seitdem 1970 die sogenannte Weltgemeinschaft beschloss, die Entwicklungshilfe sollte 0,7 Prozent vom Bruttosozialprodukt eines Landes betragen – Deutschland lag 2014 mit schäbigen 0,41 auf Platz 12 in der EU. Wir wussten es spätestens seit dem 19. Mai 1990.

19.05.1990 – vor mehr als 25 Jahren: in der Reihe „Eine Welt für alle“ sendet die ARD den Science-Fiction-Film „Der Marsch“, eine Co-Produktion mit der BBC – Afrikaner auf der Flucht vor der Armut nach Europa – ein Zug verzweifelter Gestalten, die sich vor dem Hungertod retten wollen. Der junge, charismatische Issa Al-Mahdi steht an der Spitze einer unübersehbaren Karawane bitterarmer Menschen aus nordostafrikanischen Flüchtlingslagern, die in Richtung Europa ziehen. Dort sieht er die letzte Chance, seine Landsleute vor dem Hungertod zu retten. Denn dieser droht auf Grund der bitteren Armut, ausgelöst und verschlimmert durch die infolge des Klimawandels eingetretene ökologische Katastrophe in der Region.

Fünf lange Jahre hat es laut Drehbuch in Äthiopien und Somalia, im Tschad und im Sudan nicht mehr geregnet. Die Hilfen aus Europa und den USA sind im Filz der korrupten afrikanischen Regime versickert. Auf dem Marsch nach Norden schwillt der Strom der Hunger-Flüchtlinge auf Hunderttausende an. Verzweiflung, nicht Aggression treibt sie nach Norden.

Der Marsch gerät schnell zum Medienhype: Reporterteams schwärmen aus und liefern die Bilder des Elends direkt in die Wohnzimmer der Wohlstandsgesellschaft. Die Masse der Ohnmächtigen verfügt über keine andere Macht mehr als die, vor den Augen und den Kameras der reichen Europäer zu sterben. Ihre Botschaft ist unmissverständlich: „Wir sind arm, weil ihr reich seid. Jetzt kommen wir zu euch, damit ihr uns sterben seht.“ Al-Mahdis Hoffnung: „Wir glauben: wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen. Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun, wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben und möge Gott uns gnädig sein.“

Europa ist im politischen Denken über die Ideologie der „Festung Europa“ aber nicht hinausgekommen; die Brüsseler Entwicklungskommissarin Juliet Stevenson (Karin Anselm) votiert zwar für menschliche Lösungen, scheitert aber bei EU-Gremien und Flüchtlingen – verzweifelt verspricht sie ihnen im Gegenzug für die Rückkehr in ihre Heimatländer millionenschwere EU-Unterstützung. Doch die Hungernden glauben ihr nicht – Europa hat seine Glaubwürdigkeit längst verspielt. Am Schluss ruft sie verzweifelt aus: „Wir brauchen euch, wie ihr uns braucht. Wir können nicht weitermachen, wie bisher. Aber wir sind noch nicht bereit für euch, ihr müsst uns noch mehr Zeit geben.“

William Nicholson („Gladiator“, „Shadowlands“) beschwor 1990 mit dem „Marsch“ eine düstere, biblisch unterlegte Vision – schneller als befürchtet hat sie heute beklemmende Aktualität gewonnen. In Marokko warten – im Schatten der Bilder Hunderttausender Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak nahezu vergessen – mittlerweile Zigtausende von Flüchtlingen aus Ländern südlich der Sahara darauf, nach Spanien zu fliehen. Andere – ebenfalls Tausende – riskieren in teils seeuntüchtigen Booten, meist von Schleppern ausgenommen und dann alleingelassen, von Libyen aus ihr Leben: „Wir haben keine Garnelen, sondern Leichen in den Netzen – das ist die Situation im Mittelmeer vor der libyschen Küste“, berichteten im Fernsehen italienische Fischer. In Melilla und Ceuta, den spanischen Exklaven in Nordafrika, wurden die Sperrzäune entlang der zehn Kilometer langen Grenze inzwischen auf sechs Meter erhöht. Flüchtlinge, denen der Durchbruch in die spanischen Exklaven nicht gelungen war, wurden in der Wüste an der Südostgrenze zu Algerien ausgesetzt. Ausländische Journalisten berichten von dramatischen Szenen: „Warum behandelt man uns wie Tiere?“ sollen die Flüchtlinge gerufen haben.

Die Antwort gibt Al-Mahdi im Film den eilig nach Afrika entsandten EU-Vermittlern, die den Flüchtlingstreck zur Umkehr bewegen sollen, mit Worten, die einem im heimischen Fernseh-Sessel die Kehle zuschnüren: „Ihr habt in Europa so kleine Katzen. Es heißt, eine Katze kostet mehr als zweihundert Dollar pro Jahr. Lasst uns nach Europa kommen als eure Haustiere. Wir könnten Milch trinken, wir könnten eure Hand lecken. Wir könnten schnurren. Und wir sind viel billiger zu füttern.“

Bereits die Produktionsgeschichte von „Der Marsch“ warf ein Schlaglicht auf das Verhältnis Europas zur Flüchtlingsproblematik. Der Film entstand zwar als Gemeinschaftsproduktion europäischer Sendeanstalten unter Federführung der BBC, aber gegen die Bedenken spanischer und italienischer Sender. Ihnen schien die Idee einer „ökologischen Migration“ von Afrikanern in ihre Länder zu nahe und zu realistisch. Die ARD hat diesen Film als „Höhepunkt“ der europäischen Medieninitiative „Eine Welt für alle“ im Mai 1990 unter der Ägide des damaligen NDR-Programmdirektors Rolf Seelmann-Eggebert nach der „Tagesschau“ ausgestrahlt, von einem für heutige Verhältnisse ausführlichen Begleitprogramm flankiert und von der Kritik für seine perfekte Machart und die glanzvollen Dialoge gelobt. In der anschließenden Live-Diskussion wurde den Programmachern allerdings unter anderem vorgeworfen, zu schwarz zu sehen. Diese Beurteilung ist nicht nur aus heutiger Sicht abwegig: Am Sendetag zeigte die „Tagesschau“ Bilder von einem Kutter mit 300 afrikanischen Flüchtlingen, die im italienischen Brindisi angekommen waren.

Folgt: Folgen des Klimawandels