Das feine Gesicht der Antarktis

Eine neue Karte zeigt die unter dem Eis verborgenen Geländeformen so genau wie nie zuvor. Das erlaubt bessere Prognosen über die Zukunft der Gletscher und den Anstieg des Meeresspiegels

Wenn der Klimawandel die Gletscher der Antarktis immer rascher Richtung Meer fließen lässt, ist das keine gute Nachricht. Denn dadurch verlieren die gefrorenen Giganten immer mehr Eis, das dann in geschmolzener Form den Meeresspiegel ansteigen lässt. Wie schnell und in welchem Umfang dies geschieht, hängt aber nicht nur vom Anstieg der Temperaturen ab. Auch der Untergrund unter dem Eis spielt eine entscheidende Rolle. Denn während manche Geländeformen den Eisschwund bremsen, können ihn andere beschleunigen. Allerdings war über die Topografie der Landschaft unter dem Eis bisher nicht genug bekannt, um diese Risiken richtig einschätzen zu können. Mehr Licht ins Dunkel bringt nun eine neue Karte, an der auch Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) mitgearbeitet haben.

Unbekannte Anhöhen und Täler, sogar kilometertiefe Gräben, von deren Existenz bisher niemand wusste? Landkarten mit riesigen weißen Flecken, die es noch zu füllen gilt? Das klingt nach Geschichten aus längst vergangenen Entdecker-Tagen. Doch auch im Satelliten-Zeitalter gibt es noch geheimnisvolle Landschaften zu erforschen. So hatten Wissenschaftler bisher nur recht grobe Vorstellungen davon, wie der Untergrund unter dem zum Teil kilometerdicken Eispanzer der Antarktis aussieht.

Nun aber hat ein großes internationales Forscherteam um Mathieu Morlighem von der University of California in Irvine ein besseres Bild von dieser verborgenen Landschaft gezeichnet. Im Fachjournal „Nature Geoscience“ präsentieren die Fachleute die bisher genauste Karte der Topografie der antarktischen Küstenregionen. Auch Wissenschaftler des AWI haben zu diesem „BedMachine Antarctica“ genannten Projekt wichtige Daten beigesteuert.

Zwar gab es auch bisher schon Karten vom Untergrund unter dem Eis. Die jüngste davon stammt aus dem Jahr 2013 und beruht nur auf Radarmessungen. „Dabei fliegt man die jeweiligen Gebiete meist mit einem Flugzeug ab“, sagt Eis-Spezialist Prof. Olaf Eisen vom AWI. Die darauf montierten Radargeräte schicken ihre Signale nach unten, wo sie das Eis durchdringen und vom darunter liegenden Untergrund zurückgeworfen werden. Auf diese Weise lässt sich ermitteln, in welcher Tiefe Eis und Fels aufeinandertreffen. Allerdings weiß man dann erst einmal nur, wie die Buckel und Vertiefungen direkt unter den abgeflogenen Strecken verteilt sind“, erklärt Eisen. Wie das Gelände dazwischen aussehen könnte, haben Wissenschaftler für die früheren Kartenversionen mit einfachen Verfahren hochgerechnet.

Dabei konnten die gemittelten Werte allerdings durchaus um ein paar hundert Höhenmeter daneben liegen. Deshalb hat das BedMachine-Team nun nicht nur zahlreiche neue Messdaten über die Eisdicken in verschiedenen Regionen in ihre Analysen integriert. Vor allem ging es ihnen darum, das Gesicht der Landschaft zwischen den Messstrecken besser zu modellieren.

„Dazu wurde ein Computermodell benutzt, in das man Satelliten-Daten über die Fließgeschwindigkeit des Eises einspeisen kann“, sagt Eisen. Aus der Physik des Eises könnten Experten nämlich schließen, wie der Untergrund beschaffen sein muss, damit sich die gefrorenen Massen an der jeweiligen Stelle tatsächlich so bewegen wie beobachtet. „Wenn man zum Beispiel feststellt, dass in ein Tal oben drei Kubikkilometer Eis pro Jahr reinfließen, unten aber nur zwei Kubikkilometer rauskommen, dann kann mit der berechneten Geländeform am Ausfluss etwas nicht stimmen“, erläutert der AWI-Forscher. Er und seine Kollegen wissen dann: Dieses Tal muss dort deutlich tiefer sein als bisher angenommen.

Durch die neuen Analysen hat sich zwar die großräumige Topografie der Antarktis nicht geändert. Im Detail aber haben die Forscher viele neue Erkenntnisse gewonnen. Die wohl spektakulärste Entdeckung haben sie unter dem Denman-Gletscher in der Ost-Antarktis gemacht. Dort reicht ein eisgefüllter Graben bis zu 3,5 Kilometer unter den Meeresspiegel – und das ist Weltrekord: Bisher ist an Land weltweit kein tieferer Einschnitt bekannt.

Andere Landformen, die das Team neu entdeckt oder zumindest neu dimensioniert hat, sehen zwar weniger spektakulär aus. Doch auch sie können weitreichende Auswirkungen haben. Denn die Buckel und Senken unter dem Eis können darüber entscheiden, ob ein Gletscher auch bei steigenden Temperaturen einigermaßen stabil bleibt oder ob er durch den Klimawandel sehr rasch verschwinden könnte.

Kritisch werde es für die Zukunft eines Gletschers vor allem dann, wenn seine Unterseite unter dem Meeresspiegel liege und sich das Gelände landeinwärts neige. Denn dann könnten die Eismassen rasch instabil werden, wenn es zu einer Erwärmung des Ozeans komme. Entscheidend seien dabei die Vorgänge an der sogenannten Aufsetzlinie. Das sei der Bereich eines ins Meer fließenden Gletschers, an dem das Eis den festen Untergrund verlasse und auf dem Wasser zu schwimmen beginne, erklärt der Forscher weiter.

Taue nun im Zuge des Klimawandels warmes Meerwasser den Gletscher von unten an, wandere diese Linie weiter landeinwärts. Falle das Gelände in dieser Richtung ab, habe sie dann also einen dickeren Eispanzer über sich. Je dicker aber die gefrorenen Massen an dieser Stelle seien, umso rascher fließe das Eis Richtung Meer.

„Dadurch weicht das Eis immer weiter zurück und es kommt ein Prozess in Gang, der sich selbst verstärkt“, erklärt Prof. Angelika Humbert, ebenfalls Eisforscherin am AWI. Schon länger befürchteten Wissenschaftler, dass dieser Effekt etliche Gletscher zerfallen lassen könnte, die in der West-Antarktis in die Amundsensee fließen.

„Dank der neuen Karte können wir nun besser einschätzen, in welchen Regionen die Gletscher besonders empfindlich auf den Klimawandel reagieren könnten“, erklärt Olaf Eisen. Unter dem Thwaites- und dem Pine-Island-Gletscher in der West-Antarktis falle das Gelände zum Beispiel noch weiter und tiefer landeinwärts ab als bisher angenommen. Für diese Gletscher, die bei Eisexperten ohnehin schon als besondere Sorgenkinder gelten, sehe die Zukunft also noch düsterer aus. Aber auch in der Ost-Antarktis gebe es solche Gebiete mit ungünstiger Topografie, zum Beispiel unter dem gewaltigen Recovery-Gletscher, der immerhin 40 Prozent der gesamten Ost-Antarktis entwässere. Und auch der Rekord-Graben unter dem Denman-Gletscher könnte zu dessen Destabilisierung beitragen, wie die Forscher befürchten.

Andererseits halte die neue Karte aber auch ein paar gute Nachrichten bereit. So stabilisierten vorher unbekannte Geländerücken das Eis, das über das Transantarktische Gebirge fließt. Diese Eismassen könnten dem Klimawandel also länger trotzen als bisher befürchtet. „Diese neuen Erkenntnisse helfen uns also, die Stabilität der Gletscher in verschiedenen Regionen besser zu beurteilen“, resümiert Olaf Eisen. „Nur so können wir auch realistisch einschätzen, ob und wie stark sie künftig den Meeresspiegel ansteigen lassen können.“

Originalpublikation

Mathieu Morlighem et al.: Deep glacial troughs and stabilizing ridges unveiled beneath the margins of the Antarctic ice sheet. Nature Geoscience, 2019, DOI: 10.1038/s41561-019-0510-8

->Quelle: Alfred-Wegener-Institut/awi.de/das-feine-gesicht-der-antarktis