Wie formbar ist das Energiesystem?

Vortrag von Jürgen Renn im Rahmen einer ESYS-Konferenz

Das virtuelle Treffen diskutierte am 17.06.2021 ein Papier mit zehn Empfehlungen an die neue Bundesregierung und den neuen Bundestag. Jürgen Renn, Direktor am Berliner Max-Planck-Instut für Wissenschaftsgeschichte und Mitglied im Direktorium des Projekts „Energiesysteme der Zukunft“ der Akademie der Technikwissenschaften acatech: „Das Papier an dem wir arbeiten, ist ein Papier im Fluss. Es geht dabei um die Formbarkeit des Energiesystems, gerade auch vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und Pfadabhängigkeiten.“

Pferdefuhrwerk mit Ölfässern um 1890 – Foto aus U-Bahnstation in Baku, mit freundlicher Genehmigung © Benjamin Steininger, MPIWG

„Das ist zum einen eine technische, zum anderen eine gesellschaftliche Frage. Schon in seiner ersten Fassung hat das Papier eine lebhafte, kontroverse Diskussion hervorgerufen. Bei dieser Gelegenheit will ich allen Dank sagen, die mit sehr hilfreichen und kritischen Kommentaren zu unserer gemeinsamen Arbeit beigetragen haben. Auch viele andere von Ihnen werden inzwischen die Gelegenheit gehabt haben, einmal in das Papier hineinzuschauen, deshalb werde ich Ihnen das Papier nicht noch einmal vollständig vorstellen, auch nicht auf die vielen einzelnen, sehr hilfreichen Verbesserungs- und Präzisierungsvorschläge eingehen, die wir natürlich alle berücksichtigen werden.

Stattdessen will ich mich auf einige grundsätzliche Punkte konzentrieren. Die globalen Randbedingungen sind Ihnen ohnehin klar:

Überfluss – Grund für EE, Grafik © Robert Schlögl, FHI – nach IEA

Die Nutzung von fossiler Energie ist die dominierende Ursache für die seit Mitte des 20. Jahrhunderts sich dramatisch beschleunigende globale Erwärmung. Deshalb muss das Energiesystem auf grundlegende und global wirksame Weise verändert werden. Die Pariser Klimaziele geben das Ausmaß dieser Änderung vor, da sich aus ihnen ein begrenztes globales Restbudget für die noch zulässigen Treibhausgasemissionen ableitet, bevor das Energiesystem zwingend treibhausgasneutral wirtschaften muss – damit wir überleben.

Würden wir die verfügbaren fossilen Quellen, die Schätzungen zufolge noch für ca. 85 Jahre reichen, auch noch verbrennen, dann würde die globale Temperatur um 3,5 Grad steigen, und die Erde für uns praktisch unbewohnbar werden. Die notwendige Rückführung der Treibhausgasemissionen kann also nur durch einen zügigen Ausstieg aus der Nutzung fossiler und dem globalen Einstieg in nachhaltige Energieträger gelingen. Das ist keine Frage der Knappheit der Energieressourcen, sondern ihrer künstlichen Verknappung – historisch ein bemerkenswerter, wenn auch vielleicht nicht singulärer Umstand. Er zeigt und jedenfalls, in welchem Ausmaß hier unsere Gestaltungsfähigkeit gefragt ist und nicht nur das Vertrauen auf quasi-automatische, weil etablierte Mechanismen wie den Markt. Auch das ist mit der Formbarkeit des Energiesystems gemeint.

Zu den Randbedingungen dieses Ausstiegs gehört also zum einen das begrenzte globale Restbudget, aus dem sich die zeitliche Dringlichkeit unseres Handelns herleitet, zum anderen aber die technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen der Ausstieg realistischerweise, und d.h. unter Berücksichtigung der Pfadabhängigkeiten, vollzogen werden kann. Die Folie, die übrigens von Robert Schlögl stammt, zeigt übrigens zugleich, dass es bei einer globalen Energiewende nicht, wie in Kommentaren behauptet wurde, notwendigerweise um eine Energiekontraktion gehen muss, denn erneuerbare Energie steht ausreichend zur Verfügung.

Die vollständige Umstellung auf Klimaneutralität muss dabei nicht nur innerhalb der nächsten 15–30 Jahre bewältigt werden. Sie muss auch ihre größten Effekte sehr rasch erzielen. Die Kohlendioxid-Anreicherung in Atmosphäre und Ozean ist kumulativ und so lange man auf den derzeitigen Emissionshöchstständen verharrt, ist das Restbudget umso schneller verbraucht. Je länger man also wartet, umso steiler und radikaler müssen die Emissionskurven sinken, umso disruptiver die Einschnitte sein. Zudem wären steigende Mengen an negativen Emissionen (sprich: Kohlenstoffsequestrierung) nötig, die mit neuen wirtschaftlichen, technischen und politischen Risiken verbunden sein dürften.

Ich will die Größenordnung des zu Erreichenden noch einmal kurz anhand einer anderen Grafik illustrieren. Es wurde in den Kommentaren angemerkt, dass sich die historischen Teile des Papiers zu sehr einer ‚Kriegsrhetorik‘ bedienen. Schaut man sich die historische Entwicklung des Gradienten der Treibhausgasemissionen an, findet man jedoch in der Tat, dass die einzigen historischen Ereignisse in den letzten hundert Jahren, die zu einer den jetzigen Erfordernissen vergleichbaren Absenkung geführt haben in der Tat höchst dramatische Ereignisse waren: der Zweite Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kommunismus. Mit welchen Maßnahmen und Mechanismen lassen sich die gegenwärtig gesetzten Ziele, die in der Summe ja noch viel radikaler sind, erreichen? Übrigens geht es hier nicht um eine Kritik an der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik oder an der sozialen Marktwirtschaft, wie einige Kommentatoren angemerkt haben. Vielmehr geht es um ein Ausloten von Optionen, die zugleich den Herausforderungen des Klimaschutzes gerecht werden und dazu beitragen, diese Gesellschaftsordnung angesichts der Herausforderungen zu bewahren.

Was ist die Hauptbotschaft des Papiers? Die gegenwärtig national und international diskutierten Maßnahmen reichen nicht aus. Das zeigt diese Grafik, die ebenfalls von Robert Schlögl stammt, sehr anschaulich. Erneuerbare Energien sind nicht dabei fossile Energieträger abzulösen, sondern ergänzen sie allmählich, wie wir das aus früheren Energiewenden kennen. Aber das reicht nicht aus.

Weltweiter Energiemix und EE-Status – Grafik © Robert Schlögl, FHI, nach BP

 

Auf der technologischen Ebene sind längst nicht alle Probleme gelöst, aber immerhin besteht hier Anlass zum Optimismus, wenn das verfügbare Wissen und die verfügbaren Technologien entschlossen eingesetzt und weiter entwickelt werden. In dieser Hinsicht ist das Energiesystem in der Tat formbar. Allerdings sind hier Pfadabhängigkeiten, wie die massiven Infrastrukturen des fossilen Energiesystems, die nicht einfach ersetzt werden können, sondern wo immer möglich umgenutzt werden sollten – siehe Wasserstoffwirtschaft -, sowie systemische Aspekte zu berücksichtigen. Schließlich ist das fossile Energiesystem das größte technische System, das Menschen je gebaut haben – und die Öl- und Gasindustrie dementsprechend eine der größten Industrien dieses Planeten. Das bringt mich auf die anderen, gesellschaftlichen Pfadabhängigkeiten.

In der gesellschaftlichen und politischen Diskussion begnügen wir uns jedoch oft damit, etwas in der richtigen Richtung zu unternehmen, ohne uns klar zu machen, ob wir die gesetzten und notwendigen Ziele damit auch am Ende wirklich erreichen können. Hier stehen der Formbarkeit des Energiesystems in der Tat mächtige Pfadabhängigkeiten entgegen, die von mangelnder Regulierung über Überregulierung, wirtschaftliche und politische Interessenkonstellationen bis zu einem blinden Vertrauen auf gradualistische Prozesse wie Marktregulierung durch einen allmählich steigenden Kohlenstoffpreis reichen.

‚Kohlenstoffflucht‘ ebenso wahrscheinlich wie ‚Kapitalflucht‘

Diese Pfadabhängigkeiten lassen sich mit Blick auf die historische Entwicklung von Energiesystemen schärfer in den Blick nehmen, die vor allem auf die entscheidende Rolle staatlichen Handelns und die dadurch bedingte Gestaltbarkeit von Märkten im Energiebereich verweisen. Hier größere Transparenz zu erzielen und Diskussionen anzuregen, ist ein weiteres Ziel des Papiers. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen kurz erläutern:

  1. Das Energiesystem besteht aus Anteilen, die der staatlichen Daseinsfürsorge zuzurechnen sind und Anteilen, die marktförmig gestaltet werden können. Es ist jedoch insgesamt nur bedingt marktfömig, weil Energieressourcen eine spezifische geopolitische Konstellation aufweisen und Energieinfrastrukturen – von Pipelines bis zu Netzen –  oft ’natürliche Monopole‘ darstellen. Sie repräsentieren technologische Systeme, in denen die Duplizierung von Infrastruktur oder ‚Wettbewerb‘, wie er in den Abstraktionen der Ökonomie verstanden wird, keine Rolle spielen kann. Die Privatisierung von Energiemärkten kann z.B. dazu führen, dass staatseigene Unternehmen Infrastruktur aufkaufen. Nach der Privatisierung des britischen Stromerzeugungssystems (des Central Electricity Generating Board CEGB) wurde ironischerweise ein Teil der bestehenden Stromerzeugungs- und Netzinfrastruktur von staatlichen Unternehmen aufgekauft: Konkret besitzt Electricité de France (EDF) einen bedeutenden Teil des Netzes, und die chinesische Guangdong Nuclear Power Company baut die neuen Kernkraftwerke Großbritanniens: In gewisser Weise wurden diese Industrien also wieder verstaatlicht, aber nicht unter britischer Kontrolle. Eine ähnliche Abhängigkeit von den nationalen Erfordernissen anderer Länder zeigt sich in Deutschland, wo die russische Gazprom bekanntlich Eigentümer der Nord Stream 2 AG ist. Obwohl das Unternehmen nicht erkennbar ’staatlich‘ ist, ist es offensichtlich ein Vehikel für Russlands Führung, um ihre politischen und akquisitorischen Ziele zu erreichen.
  2. Mein zweites Beispiel betrifft die ökonomischen Mechanismen des CO2-Preises: Hier weist das Papier auf die Notwendigkeit der Absicherung der langfristigen Stabilität des Bepreisungssystems hin, sowie auf ergänzende staatliche Maßnahmen für den Ausgleich internationaler Wettbewerbseffekte und Ausgleichsmechanismen, um soziale Härten abzufedern und ungewünschte Verteilungseffekte zu vermeiden. Wie schwierig das im Einzelnen ist, zeigt die gegenwärtige Diskussion um die Gestaltung sozialer Ausgleichsmechanismen. Aber das Problem liegt tiefer: In den 1930er Jahren argumentierte der Ökonom Harold Hotelling, dass Ressourcen aufgrund ihres sich anhäufenden Wertes ‚im Boden‘ liegen bleiben würden, während sie zunehmend knapper werden. In der Tat würde auf diese Weise der Preismechanismus die Erhaltung der Ressourcen regulieren. Im Fall von fossilen Brennstoffen könnte dies bedeuten, dass die Erwartung zukünftiger Knappheit als Mechanismus fungiert, um die reduzierte Emission von CO2 und anderen Treibhausgasen sicherzustellen. Besteht also umgekehrt das Risiko, dass eine Kohlenstoffsteuer oder Kohlenstoffbepreisung, insbesondere eine, die im Laufe der Zeit ansteigt, dazu führen würde, dass die Ressourcen im Boden an Wert verlieren? Wenn ja, würde vielleicht ein umgekehrter Hotelling-Effekt eintreten, bei dem die Besitzer fossiler Brennstoffreserven durch einen steigenden Kohlenstoffpreis nicht nur den Wert ihrer Ressource, sondern auch einen Wertverlust ihres Aktienkurses riskieren würden – insbesondere wenn man bedenkt, wie eng die Aktienkurse von Ölgesellschaften mit den Schätzungen ihrer verbleibenden Gesamtreservenschätzungen verbunden sind. Kohlenstoffpreise bzw. Emissionssteuern könnten also dazu führen, dass die Anreize zur Verbrennung der verbleibenden Reserven zu einem erschwinglichen Preis erhöht werden. Sie könnte auch zu einer beschleunigten Deregulierung der fossilen Brennstoffindustrien führen, wie wir es während des Öl- und Gasbooms der Trump-Administration und ihrer Rhetorik der ‚Energiedominanz‘ gesehen haben. Übrigens ist ‚Kohlenstoffflucht‘ ebenso wahrscheinlich wie ‚Kapitalflucht‘, bei der Unternehmen in Gebiete ohne Kohlenstoffregulierung fliehen, was die Notwendigkeit einer multilateralen Politik unterstreicht.

Alternativen sind ein Universal Carbon Credit und die Idee, dass jeder Erwachsene (weltweit) ein Limit für die Menge an CO2 erhält, die er in einem Jahr emittieren darf. Angesichts der ungleichen Einkommensverteilung in vielen Gesellschaften schlägt der Ökonom Steve Keen beispielsweise vor, dass dies den meisten Menschen in den Entwicklungsländern und denjenigen mit geringem Einkommen erlauben würde, ihre Kohlenstoffemissionen zu erhöhen. Waren und Dienstleistungen würden in einer Weise bepreist, die ihren Kohlenstoffgehalt widerspiegelt.

Während die technischen Gestaltungspielräume des Energiesystems inzwischen breit diskutiert werden, sind der gesellschaftlichen Formbarkeit des Energiesystems durch die Komplexität des gesellschaftlichen Systems, das die des technischen Energiesystems noch bei weitem übersteigt, aber auch durch eingefahrene Diskurse und manchmal sogar durch ideologische Scheuklappen oft zu enge Grenzen gesetzt. An diesen Grenzen soll das Papier rütteln, denn die Zeit drängt.“

->Quelle: Jürgen Renn (MPIWG), 17. Juni 2021 with input from Tom Turnbull, ESYS