Kopernikus hat schon viel erreicht

Viertes Kopernikus-Projekt „Systemintegration“: Energiewende-Navigationssystem ENavi

Ein wirtschaftliches, umweltverträgliches, verlässliches und sozialverträgliches Energiesystem benötigt eine ganzheitliche Betrachtung auf Systemebene. ENavi sieht die Energiewende daher als einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess und verknüpft wissenschaftliche Analysen mit politisch-gesellschaftlichen Anforderungen. Das Projekt ENavi zielt laut BMBF-Internetseite darauf ab,

  • ein tieferes Verständnis des komplex vernetzten Energiesystems im Energiebereich und den damit verbundenen Bereichen wie Industrie und Konsum zu gewinnen,
  • Handlungsoptionen aufzuzeigen, wie die Komponenten des zukünftigen Energiesystems unter Berücksichtigung der energiepolitischen Ziele und (u. a. rechtlichen Rahmen-) und Randbedingungen systemisch integriert werden können,
  • so präzise wie möglich abzuschätzen, welche Folgen eine bestimmte Maßnahme kurz-, mittel- und langfristig auf das Energiesystem haben würde und schließlich
  • im transdisziplinären Diskurs Optionen für wirksame Maßnahmen zu generieren.

Eines der zentralen Produkte des Projekts ist ein Navigationsinstrument, mit dem die Forscher die Wirkungen und Nebenwirkungen von wirtschaftlichen oder politischen Maßnahmen im Voraus abschätzen wollen. Es soll dabei helfen, die entscheidenden Fragen zu beantworten: Wie kann man dafür sorgen, dass die Energiewende die einkommensschwachen Gruppen in Deutschland nicht zu stark belastet? Mit welchen Maßnahmen kann man effektiv und effizient die Elektromobilität in Deutschland fördern? Oder: Wie können mehrere zehntausend Lieferanten von Solarstrom auf privaten Dächern sinnvoll synchronisiert werden?

Urs Ruth, Chief Advisor Global Energy and Climate Change, Future Research and Technology Strategy bei der Robert Bosch GmbH, präsentierte gemeinsam mit Prof. Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor des IASS-Potsdam das vierte Kopernikus-Projekt „ENavi“. Ruths zentrale Frage lautete: „Wie können wir den Anteil an Erneuerbaren Energien am Strommix erhöhen und in andere Sektoren hineinbringen?“ Durch Systemintegration, verstärkte Gebäudesanierung und eine schnellere Verkehrswende. Ein sehr komplexes Zusammenspiel, so Ruth, denn in ENavi gehe es auch um den Menschen als Teil des Energiesystems – und das in zweierlei Hinsicht:

  1. Einmal die Akzeptanzprobleme, das „Not-in-my-backyard“(nimby)-Phänomen (man ist zwar grundsätzlich dafür, möchte aber den Windgenerator nicht direkt hinterm Haus haben).
  2. Zum andern, und das sei noch schwieriger, gehe es um Verhaltensänderung. Hierbei zeige sich aber ein systemisches Risiko, wenn sich der Energiebedarf nicht so weit wie nötig reduzieren lasse: Im 2°-Szenario werde zwar gesetzt, dass die Energieeffizienz im Verkehr bis 2050 um 50% gesteigert werde – gegenwärtig sei jedoch kein Trend zu kleineren, schwächeren Fahrzeugen erkennbar. In verschiedenen Szenarien würden Verkehrsträger-Verlagerungen genannt: Würden diese denn angenommen? Oder bei Haushaltsgeräten: hier wurde die  Energieeffizienz zwar stark verbessert, gleichzeitig ist der Verbrauch dennoch um 15 Prozent gestiegen.

ENavi solle nun bewerten, inwieweit die Gesellschaft durch Verhaltensänderungen die Energiewende zu unterstützen bereit sei und gleichzeitig die dabei auftretenden Risiken einschätzen. Das führe zu der Frage: „Ist dieses Risiko relevant? Wie hoch ist die Eintrittswirklichkeit?“ Ruth: „More likely than not“. Wir brauchen resiliente Szenarien dafür, die robust sind gegen solche Risiken.“ Es sei schwer zu quantifizieren, mit welchen  Verhaltensänderungen gerechnet werden kann, mit welchen Maßnahmen Risiken vermieden werden können, oder, wenn Risiko eintrete, was dann tun? Ruth schlug vor, über regenerative Energieimporte nachzudenken – welche Pfadabhängigkeiten entstünden dabei? Die Herausforderungen der Energiewende seien also nicht nur technologischer Art. Deshalb müssten die Energieszenarien Stresstests unterworfen werden. Schließlich forderte Ruth, die Strom-, Verkehrs- und Wärmewende um eine vierte Dimension zu erweitern, nämlich eine „Energieträgerwende mittels Power2X durch internationale Vernetzung“.

Aus der BMBF-Beschreibung: „ENavi soll dazu beitragen, die Energiewende nachhaltig und mit größtmöglicher Akzeptanz voranzutreiben. Die potenziellen Erkenntnisse zu nachhaltigen Transformationspfaden sind von großem strategischem Interesse für die Abschätzung des Markt-Potenzials verschiedener Technologien. Im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung werden Stand und Perspektiven vor allem des Netzausbaus, der Speicherkapazitäten, der Nachfrageseite und der Erzeugung (zentral und dezentral) sowie die Wechselwirkungen dieser Dimensionen in den Blick genommen. Darüber hinaus liefert das Projekt auch konkrete, technische Konzepte, wie z. B. im Bereich der energiebezogenen Kommunikationsinfrastruktur (IKT), sowie rechtliche Analysen. Die Chancen der Energiewende betreffen sowohl technische Systemlösungen als auch die Entwicklung möglicher neuer Geschäftsmodelle und Dienstleistungen.

Eine Gestaltungsaufgabe des Kopernikus-Projektes ENavi liegt darin, die Expertise aus den unterschiedlichen Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu bündeln. Mit dem Start des Projektes wird auch ein Prozess verbunden, der konkrete Fragestellungen der unterschiedlichen Akteure sammelt und mit den Forschungsarbeiten verknüpft. Dabei spielen die Ergebnisse und Ziele anderer Kopernikus-Themenfelder eine besondere Rolle. Hierbei werden Elemente aus anderen Projektideen integriert.

IASS-Direktor Ortwin Renn, ENavi-Sprecher, zitierte eingangs seinen Vorgänger, IASS-Gründer Klaus Töpfer: „Die Energiewende ist ein Gemeinschaftswerk“, dabei sei „Integration das Schlüsselwort“. Erst in der Wechselwirkung der neuen Formen, Verhaltensweisen, Regulierung und Technologieentwicklung – entstehe der Erfolg. Dafür führe man eine Interventionsfolgenabschätzung im Rahmen einer Roadmap des Projekts durch. „Mit Zielkonflikten werden wir dabei leben müssen, aber wir wollen sie kennen.“ In diesem Sinne versucht ENavi, Konsequenzen von Maßnahmen zu evaluieren. Das sei eine transdisziplinäre Aufgabe: Alle 80 Projektpartner müssten an der Erkenntnis- und Entscheidungsfindung beteiligt sein. Erste Ergebnisse lägen bereits vor:

  • Besondere Betonung der Wärmewende
  • Alternative Antriebe
  • Kohleausstieg nur mit tragfähigen Alternativen

Eine konkrete Lösungsoption beschrieb Renn anhand eines konkreten Beispiels: „80 Prozent der Wohnungen stehen 80 Prozent des Tages leer – und werden beheizt. Hier können wir Heizkosten sparen, ohne dass es für die Menschen eine Einschränkung bedeutet.“ ENavi sei nämlich kein rein sozialwissenschaftliches Projekt, es stehe für Einbeziehung der Energiewende unter Beachtung gesellschaftlicher, sozialer, psychologischer Wirkmechanismen. Wie könne man Bürger als Eigentümer einbinden und zur Mitgestaltung einladen? lautete Renns Schlussfrage und er formulierte als Motto dazu: „Vom Stammtisch zum runden Tisch“.

„Ohne Zivilgesellschaft geht es nicht“

Nabu-Präsident Olaf Tschimpke stellte im Schlussvortrag des ersten Tages fest: „Die Kopernikus-Projekte sind ein Lernprozess“. Ein solcher sei es für technologie-orientierte Menschen gewesen, sich auch mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Er bekräftigte für alle NGOs die Feststellung: „Ohne Zivilgesellschaft geht es nicht – das zeigte sich schon beim Atomausstieg und der Durchsetzung der Erneuerbaren Energien.“ Die Zivilgesellschaft zeige, dass es mehr gebe als Technologie.  Dabei sei nicht alles mit Anreizen zu steuern – auch ordnungspolitische Maßnahmen seien nötig. Tschimpke weiter: „Wir brauchen auch ein Zielwissen, und die Zivilgesellschaft will über die Ziele auf Augenhöhe mit diskutieren. Dann ist nicht mehr die Frage, ob wir das hinkriegen, sondern nur noch wie. Dieser Anspruch ist allerdings nicht neu.“ Vieles in den Projekten laufe nach Auskunft der Nabu-Teilnehmer – immerhin „des größten deutschen Naturschutzverbands“ – sehr gut. Die ersten Ansätze, dass zivilgesellschaftliche Organisationen eingebaut würden, seien ein positives Signal. Allerdings warnte Tschimpke, die NGOs wollten „nicht reiner Akzeptanzbeschaffer sein“  – ohnehin sei in einigen Bereichen die Akzeptanz bereits verloren gegangen: zum Beispiel beim Biogas, den Maislandschaften.

Folgt: Zweiter Tag der Energieoffensive 2030